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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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überlegt, aber auch jetzt in diesem spielerischen Ton. »Körperlich krank bin ich nicht. Auch wenn ich wenig Appetit habe, falls Sie das meinen.«
    Olive nickte. Wenn sie sich einen Tee hätte geben lassen, dann hätte sie gehen können, nachdem sie ihn ausgetrunken hatte. Aber dafür war es jetzt zu spät. Sie saß fest.

    »Und geistig - da glaube ich offengestanden nicht, dass ich auch nur das kleinste bisschen mehr spinne als irgendjemand sonst auf der Welt.« Louise trank ein Schlückchen Tee. Die Adern an ihrer Hand traten stark hervor; eine zog sich den ganzen dünnen Fingerrücken entlang. Die Teetasse klapperte kaum merklich gegen die Untertasse. »War Christopher oft da, um Ihnen zu helfen, Olive?«
    »Sicher war er da. Natürlich.«
    Louise spitzte die Lippen, legte den Kopf wieder schief und musterte Olive, und Olive sah jetzt erst, dass sie geschminkt war. Um ihre Augen lag ein Hauch von Farbe, passend zu ihrem Strickkleid. »Wozu sind Sie hergekommen, Olive?«
    »Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Weil Sie mir so freundlich geschrieben haben.«
    »Aber ich habe Sie enttäuscht, stimmt’s?«
    »Überhaupt nicht.«
    »Sie sind der letzte Mensch, von dem ich eine Lüge erwartet hätte, Olive.«
    Olive bückte sich nach ihrer Handtasche. »Ich muss los. Aber noch mal schönen Dank für die Karte.«
    »Ach was«, sagte Louise mit weichem Lachen. »Sie sind hergekommen, weil Sie sich davon eine ordentliche Portion Schadenfreude versprochen haben, und es hat nicht geklappt.« Und singend: »Tut mir lei-eid.«
    Über sich hörte Olive die Dielen ächzen. Sie stand auf, die Handtasche im Arm, und sah sich nach ihrer Jacke um.
    »Roger ist aufgewacht.« Louise lächelte unverändert. »Ihre Jacke ist in dem Schrank gleich neben der Haustür. Und ich weiß zufällig, dass Christopher nur ein einziges Mal da war. Tja, Olive. Lügen haben kurze Beine.«
    Olive machte so schnell, wie sie nur konnte. Sie hängte sich die Jacke über die Schulter und warf einen Blick zurück. Louise saß in ihrem Sessel, ihr magerer Rücken kerzengerade,
ihr Gesicht so befremdlich schön; sie lächelte nicht mehr. Mit lauter Stimme sagte sie zu Olive: »Sie war ein Miststück, wissen Sie. Eine Schlampe.«
    »Wer?«
    Louise starrte sie nur an. Ein Schauder durchlief Olive.
    Dann sagte Louise: »Sie war - oh, sie war ein Luder, glauben Sie mir, Olive Kitteridge. Sie hat’s nicht anders gewollt! Ich pfeif auf dieses Gesülze in den Zeitungen, von wegen, wie tierlieb sie war und wie kinderlieb sie war! Sie war böse, ein Monstrum, das nur ein Ziel auf dieser Welt hatte: einem unschuldigen Jungen den Verstand zu rauben.«
    »Schon gut, schon gut.« Olive schob eilig einen Arm in den Ärmel.
    »Sie hatte es verdient, wirklich. Sie hat’s verdient.«
    Als Olive sich umdrehte, stand hinter ihr auf der Treppe Roger Larkin. Er sah alt aus und trug einen ausgeleierten Pullover, an den Füßen hatte er Pantoffeln. Olive sagte: »Es tut mir leid. Ich hab sie anscheinend gereizt.«
    Er hob nur müde die Hand, wie um ihr zu bedeuten, sie solle sich nichts denken, das Schicksal habe sie so weit gebracht, und er habe sich damit abgefunden, in der Hölle zu leben. Das war der Eindruck, den Olive mitnahm, als sie sich in ihre Jacke hineinkämpfte. Roger Larkin öffnete die Tür und nickte leicht, und einen Moment, bevor die Tür zufiel, meinte sie ganz deutlich das helle Klirren von zerspringendem Porzellan zu hören, gefolgt von dem gezischten Wort: »Fotze!«
     
    Weißer Dunst hing über dem Fluss, so dass man das Wasser nur ahnte. Auch von dem Weg selbst sah man nicht viel, und Olive erschrak jedes Mal, wenn jemand an ihr vorbeilief. Sie war später dran als gewöhnlich, und es waren mehr Leute als sonst unterwegs. Die Kiefernnadeln neben der Asphaltdecke waren sichtbar und dahinter der Saum aus hohen Gräsern,
die rissigen Stämmchen der Straucheichen, die Ruhebank aus Granit. Aus dem blassen Nebel kam ihr ein junger Mann entgegengejoggt, vor sich einen dreieckigen Kinderwagen, den er lenkte wie ein Fahrrad. Olive erhaschte einen Blick auf ein schlafendes Baby im Wageninneren. Was für Gefährte sie heutzutage hatten, diese selbstverliebten Babyboom-Eltern. Als Christopher so alt war wie dieses Baby, hatte sie ihn zum Schlafen einfach in sein Bettchen gelegt und war die paar Schritte zu Betty Simms hinübergegangen, die selber fünf Kinder hatte - Kinder, die im ganzen Haus herumkrabbelten und an Betty klebten wie Nacktschnecken. Wenn Olive dann

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