Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
warst.«
    »Woher will sie das wissen? Ich denke, sie ist verrückt?«
    »Sie ist verrückt. Hörst du denn nicht zu? Aber ich glaube, sie weiß es von Mary Blackwell, anscheinend haben die zwei Kontakt.«

    Christopher gähnte. »Ich muss langsam mal duschen, Mom. Sag Bescheid, wenn irgendwas mit Daddy ist.«
     
    Als sie zurück zum Pflegeheim fuhr, rieselte ein feiner Regen auf das Auto und die Straße vor ihr herab. Der Himmel war grau und niedrig. Sie fühlte sich auf andere Weise elend als bisher. Der Grund war Christopher, sicher. Aber zugleich hatte sie ein schlechtes Gewissen wie noch nie. Verlegenheit brannte in ihr, so tief und heiß, als hätte man sie beim Ladendiebstahl erwischt; nicht dass sie je Ladendiebstahl begangen hätte. Scham peitschte ihre Seele, ja - so wie die Scheibenwischer vor ihr über die Glasscheibe peitschten, zwei große, lange schwarze Ruten, unerbittlich und rhythmisch in ihrer Züchtigung.
    Sie bog in den Parkplatz des Pflegeheims ein, in einem so scharfen Winkel, dass sie fast ein Auto gerammt hätte, das neben ihr einparkte. Sie stieß zurück, fuhr wieder vor, mit mehr Abstand diesmal, aber es erschreckte sie, wie nahe sie einem Zusammenstoß gewesen war. Sie fasste nach ihrer großen Handtasche, vergewisserte sich, dass sie ihre Schlüssel griffbereit einstecken hatte, und stieg aus. Die Frau - sie war ein paar Schritte vor Olive - drehte sich zu ihr um, und in diesen wenigen Sekunden geschah etwas Merkwürdiges. Olive sagte: »Es tut mir furchtbar leid, wirklich«, und fast im selben Moment sagte die Frau: »Ach, das macht doch nichts«, mit einer solchen Freundlichkeit, einer so spontanen Großzügigkeit, dass es Olive wie eine Fügung des Himmels vorkam. Die Frau war Mary Blackwell. Und es ging alles so schnell, dass offenbar keine von ihnen gleich begriff, wen sie vor sich hatte. Aber da standen sie, Olive Kitteridge, die sich bei Mary Blackwell entschuldigte, und Mary, deren Ausdruck milde war, überhaupt nicht nachtragend.
    »Irgendwie hab ich Sie einfach nicht gesehen in dem Regen«, sagte Olive.

    »Das kenn ich. Solche Tage sind furchtbar - Dämmerung, bevor es noch richtig hell wird.«
    Mary hielt ihr die Tür auf, und Olive ging vor ihr durch. »Danke«, sagte Olive und drehte sich noch einmal nach ihr um, sicherheitshalber. Marys Gesichtsausdruck war müde und unkämpferisch, es gab keinen Hinweis, dass ihr Mitgefühl nicht echt war.
    Für wen habe ich sie gehalten?, dachte Olive. (Und dann: Für wen habe ich mich gehalten?)
    Henry lag immer noch im Bett. Er hatte es den ganzen Tag nicht in seinen Stuhl geschafft. Sie saß neben ihm, ihre Hand auf seiner, und fütterte ihm ein paar Bissen Kartoffelbrei, den er schluckte. Es war dunkel, als sie aufstand, um zu gehen. Sie wartete, bis sie sicher sein konnte, dass sie nicht gestört würden, und dann beugte sie sich zu Henry herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Du darfst sterben, Henry. Geh ruhig vor. Ich komm schon zurecht. Du kannst vorgehen. Es ist in Ordnung.« Sie ging, ohne zurückzusehen.
    Im Faulenzerzimmer, im Halbschlaf, wartete sie auf das Klingeln des Telefons.
    Am nächsten Morgen saß Henry in seinem Rollstuhl, ein höfliches Lächeln im Gesicht, die Augen blicklos. In der Woche darauf war es das Gleiche. Und in der Woche darauf ebenso. Es ging auf den Winter zu; bald würde es dunkel sein, wenn sie ihm sein Abendessen fütterte, das manchmal von Mary Blackwell gebracht wurde.
    Eines Abends zog sie nach dem Heimkommen eine Schublade mit alten Fotos heraus. Ihre Mutter, mollig und lächelnd, aber dennoch wie von böser Ahnung beschwert. Ihr Vater, hochgewachsen, stoisch, sein Schweigen im Leben auf dem Bild fast mit Händen greifbar; er schien ihr immer noch das größte Rätsel von allen. Ein Foto von Henry als Kleinkind mit großen Augen und lockigem Haar, das furchtsam und
staunend auf den Fotografen (seine Mutter?) blickte. Ein anderes Foto von ihm als Marinesoldat, lang und schlaksig, ein halber Junge noch, der darauf wartete, dass sein Leben anfing. Du wirst einen Drachen zur Frau bekommen und sie lieben, dachte Olive. Du wirst einen Sohn haben und ihn lieben. Du wirst in deinem weißen Laborkittel dastehen und zu allen Leuten in der Stadt gleich freundlich sein, wenn sie ihre Medizin bei dir holen. Du wirst deine Tage blind und stumm in einem Rollstuhl beschließen. Das wird dein Leben sein.
    Olive legte das Bild wieder in die Schublade, und ihr Blick fiel auf ein Foto von Christopher, als er

Weitere Kostenlose Bücher