Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
noch keine zwei gewesen war. Sie hatte vergessen, wie engelhaft er ausgesehen hatte, so frisch erschaffen, dass noch keine Haut ihn zu umschließen schien, als bestünde er ganz und gar aus Leuchten. Du wirst einen Drachen zur Frau bekommen, und sie wird dich verlassen, dachte Olive. Du wirst ans andere Ende des Kontinents ziehen und deiner Mutter das Herz brechen. Sie schob die Schublade zu. Aber du wirst keine Frau mit neunundzwanzig Messerstichen töten.
Sie ging ins Faulenzerzimmer und legte sich auf den Rücken. Nein, Christopher würde niemanden erstechen (hoffte sie). Es war nicht in ihm angelegt. Nicht in der Zwiebel enthalten, die sie in diesen speziellen Boden eingepflanzt hatten, Olives und Henrys und den ihrer Eltern vor ihnen. Sie schloss die Augen und dachte an Erde, an Grünen und Sprießen, und der Fußballplatz neben der Schule fiel ihr ein. Als sie noch unterrichtet hatte, war Henry im Herbst manchmal aus der Apotheke herübergekommen, um bei einem Fußballspiel zuzuschauen. Christopher, körperlich nie einer der Forschesten, hatte die meisten Spiele hindurch in seinem Trikot auf der Bank gesessen, aber Olive war davon ausgegangen, dass ihn das nicht weiter störte.
Es war schön gewesen, die Herbstluft zu atmen, schön, die
verschwitzten jungen Körper zu sehen, diese kräftigen jungen Männer mit ihren schlammbespritzten Beinen, die vorwärts hechteten und den Ball aufs Tor köpften, und den Jubel zu hören, wenn sie trafen und der Torwart in die Knie sank. Es hatte Tage gegeben - sie wusste es noch wie heute -, an denen Henry ihre Hand nahm, wenn sie nach Hause gingen, Eheleute in ihren besten Jahren. Hatten sie es in diesen Augenblicken verstanden, froh und glücklich zu sein? Wahrscheinlich nicht. Die wenigsten Menschen wussten, was sie am Leben hatten, solange sie es noch leben durften. Aber die Erinnerung an diese Momente immerhin blieb ihr, durch nichts verdorben, durch nichts getrübt. Vielleicht war es das Ungetrübteste, was sie besaß, diese Fußballerinnerungen, denn sie hatte andere Erinnerungen, die sehr wohl getrübt waren.
Doyle Larkin war beim Fußball nicht dabei gewesen, er war nicht hier zur Schule gegangen. Olive hatte keine Ahnung, ob er überhaupt Fußball gespielt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, je von Louise gehört zu haben: »Ich muss heute Nachmittag nach Portland, Doyle hat ein Fußballspiel.« Aber Louise hatte ihre Kinder geliebt, sie hatte unablässig mit ihnen geprahlt; als sie von Doyles Heimweh im Sommerlager erzählte, hatte sie ganz feuchte Augen gehabt, das wusste Olive jetzt wieder.
Es war alles gleichermaßen unbegreiflich.
Aber es war falsch von ihr gewesen, Louise Larkin zu besuchen, falsch, zu hoffen, wenn sie fremdes Leid sah, würde es ihr besser gehen. Und wie absurd zu denken, dass Henry sterben würde, nur weil sie es ihm erlaubte! Was um alles in der Welt, dieser seltsamen und undurchschaubaren Welt, bildete sie sich eigentlich ein? Olive drehte sich auf die Seite, zog die Knie zur Brust hoch und schaltete ihr kleines Radio ein. Sie würde bald entscheiden müssen, ob sie neue Tulpen setzen wollte oder nicht, bevor der Boden gefror.
Reisekorb
Die Stadt, das sind die Kirche, die Grange Hall der Farmervereinigung und der Lebensmittelladen, und der Lebensmittelladen könnte langsam einen neuen Anstrich vertragen. Aber heute wird kein Mensch etwas in der Richtung zur Frau des Ladenbesitzers sagen - einer kleinen, rundlichen Person mit braunen Augen und zwei Grübchen hoch oben an den Wangen. Als junge Frau war Marlene Bonney sehr schüchtern und tippte die Zahlen nur zaghaft und mit rosafleckigen Bäckchen in ihre Kasse; man sah ihr an, dass es sie nervös machte, das Wechselgeld abzuzählen. Aber sie war freundlich und mitfühlend und lauschte mit aufmerksam vorgestrecktem Kopf, wenn ein Kunde irgendetwas loswerden wollte. Die Fischer mochten sie, weil sie gern lachte, ein weiches, kehliges Kichern. Und wenn sie falsch herausgab, was ihr manchmal passierte, wurde sie zwar rot bis an die Haarwurzeln, lachte aber trotzdem. »Im Rechnen werd ich wohl nie einen Blumentopf gewinnen«, sagte sie dann. »Keinen einzigen.«
Jetzt, an diesem Apriltag, stehen die Leute auf dem unasphaltierten Parkplatz neben der Kirche und warten darauf, dass Marlene und die Kinder herauskommen. Wenn gesprochen wird, dann gedämpft, und zwischendurch schaut man abwesend durch die Gegend, wie so oft bei solchen Anlässen, oder fixiert lange den Boden. Der
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