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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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zurückkam, war Chris manchmal aufgewacht und jammerte, aber Sparky, der Hund, passte ja auf ihn auf.
    Olive ging schnell. Es war heiß für die Jahreszeit, und der Dunst war warm und stickig. Der Schweiß rann ihr unter den Augen heraus wie Tränen. Der Besuch bei den Larkins saß ihr noch in den Knochen, wie eine Ladung brackigen schwarzen Schlamms fühlte es sich an. Der einzige Weg, ihn herauszuspülen, war, mit jemandem darüber zu reden. Aber um Bunny anzurufen, war es zu früh, und dass sie es Henry nicht erzählen konnte - dem Henry von früher -, tat so weh, als hätte sie ihn heute Morgen ganz frisch an seinen Hirnschlag verloren. Sie konnte sich Henrys Reaktion so gut vorstellen. Immer diese sanfte Verwunderung. »Sag bloß«, würde er sagen, gedämpft. »Sag bloß.«
    »Links!«, schrie jemand, und ein Fahrrad schoss an ihr vorbei, so nah, das sie den Luftzug an ihrer Hand spürte. »Können Sie nicht aufpassen?«, sagte der behelmte Außerirdische im Überholen.
    »Sie müssen sich rechts von dem Strich halten«, kam eine Stimme von hinten, eine junge Frau auf Rollerblades. Sie klang nicht verärgert, aber freundlich klang sie auch nicht.
    Olive machte kehrt und ging zum Auto zurück.

    Als sie im Pflegeheim ankam, schlief Henry. So wie er dalag, eine Wange ins Kissen gedrückt, sah er fast aus wie früher, weil die geschlossenen Augen die Blindheit vergessen machten, dieses leere, lächelnde Gesicht. Der Schlaf, die ganz leicht zusammengeschobenen Brauen gaben seinen Zügen etwas Angespanntes, das ihn vertraut wirken ließ.
    Mary Blackwell war nirgends zu sehen, aber eine Lernschwester sagte Olive, Henry habe eine »schlechte Nacht« hinter sich.
    »Was meinen Sie damit?«, wollte Olive wissen.
    »Er war unruhig. Wir haben ihm gegen vier Uhr früh ein Schlafmittel gegeben. Er wird wahrscheinlich noch ein Weilchen schlafen.«
    Olive zog einen Stuhl ans Bett und hielt durch das Gitter hindurch seine Hand. Es war immer noch eine schöne Hand - groß, wohlgeformt. Ganz bestimmt hatten seine Kunden all die Jahre, die er in der Apotheke die Pillen abgezählt hatte, empfunden, dass auf solche Hände Verlass war.
    Jetzt gehörte diese Hand einem Halbtoten. Vor so einem Schicksal hatte ihm gegraut, wie allen Menschen. Warum es gerade ihn ereilt hatte und nicht (zum Beispiel) Louise Larkin, darüber ließ sich nur mutmaßen. Der Arzt mutmaßte, dass Henry Lipitor oder irgendeinen anderen CSE-Hemmer hätte einnehmen sollen, weil sein Cholesterinspiegel etwas zu hoch war. Aber Henry war einer von diesen Apothekern gewesen, die selbst höchst ungern Medikamente nahmen. Und Olives Haltung gegenüber dem Arzt war schlicht: Er konnte ihr den Buckel herunterrutschen. Jetzt wartete sie, dass Henry aufwachte, damit er sich nicht fragte, wo sie blieb. Als sie ihn mit Hilfe der Lernschwester zu waschen und anzuziehen versuchte, war er groggy und schwer und döste immer wieder ein. Die Lernschwester sagte: »Vielleicht sollten wir ihn noch ein bisschen ausruhen lassen.«

    Olive flüsterte Henry zu: »Ich komme heute Nachmittag noch mal.«
    Bei Bunny ging niemand ans Telefon. Sie rief Christopher an - bei ihm war es früher, er machte sich wahrscheinlich gerade erst für die Arbeit fertig.
    »Ist etwas mit ihm?«, war Christophers erste Frage.
    »Er hat eine schlechte Nacht hinter sich. Ich fahre nachher noch mal hin. Aber Chris, ich war heute Morgen bei Louise Larkin.«
    Er blieb völlig stumm, während sie redete. Sie hörte die Dringlichkeit in ihrer Stimme, etwas Verzweifeltes, Defensives. »Diese Irre war der Ansicht, ich soll mir die Pulsadern aufschneiden«, sagte Olive. »Kannst du dir das vorstellen? Und meinte dann, na ja, vielleicht dauert das zu lang.«
    Christopher sagte nichts, auch nicht, als sie das von der zerschlagenen Teetasse und den Beschimpfungen erzählte. »Luder.« (Das Wort »Fotze« in den Mund zu nehmen, brachte sie nicht über sich.) »Bist du noch dran?«, fragte sie scharf.
    »Ich begreif nicht, warum du zu ihr gegangen bist«, sagte Chris schließlich in anschuldigendem Ton. »Nach diesen ganzen Jahren. Du hast sie doch nicht mal gemocht.«
    »Sie hat mir geschrieben«, sagte Olive. »Sie hat die Hand ausgestreckt.«
    »Ja und«, sagte Christopher. »Mich könnten keine zehn Pferde da reinbringen, und wenn mein Überleben davon abhängen würde.«
    »Dein Überleben bestimmt nicht. Die Frau würde am liebsten selber jemanden abstechen. Und sie hat gesagt, sie weiß, dass du nur einmal hier

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