Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Henry auf den Parkplatz hinausgeschoben hat und der Hund ihm die Hände geleckt hat.
»Es ist mir ein Rätsel, wie du das schaffst«, sagt Molly ehrfürchtig. »Jeden Tag hinzufahren, Olive. Du bist eine Heilige.«
»Ich bin bestimmt keine Heilige, wie du sehr gut weißt«, antwortet Olive, aber sie würde am liebsten in den Straßengraben steuern vor Wut.
»Ich frag mich ja, wie Marlene finanziell hinkommen will«, sagt Molly. »Macht es dir was aus, wenn ich das Fenster runterkurble? Für mich bist du eine Heilige, Olive, aber nimm’s mir nicht übel, es riecht ein bisschen nach Hund hier drin.«
»Denk dir nichts«, sagt Olive, »kurbel so viele Fenster runter, wie du nur willst.« Sie ist in die Eldridge Road eingebogen, und das war ein Fehler, denn nun kommen sie an dem Haus vorbei, in dem früher ihr Sohn Christopher gewohnt hat. Sie achtet eigentlich immer darauf, andersherum zu fahren, über die alte Straße an der Bucht entlang, aber dazu ist es jetzt zu spät, und sie stellt sich darauf ein, den Blick abzuwenden und gleichgültig zu tun.
»Lebensversicherung«, sagt Molly gerade. »Kerry hat irgendwem erzählt, es gibt eine Lebensversicherung. Und ich tippe ja darauf, dass Marlene den Laden letztlich auch verkaufen wird. Angeblich hat das ganze letzte Jahr Kerry sich um alles gekümmert.«
Aus den Augenwinkeln sieht Olive den Vorplatz mit seinem Verhau von Autos, und sie dreht schnell den Kopf weg, wie um durch die Fichten aufs Wasser hinauszuschauen, aber sie wird das Bild der vollgestellten Einfahrt nicht los. Und dabei war es einmal so schön hier! Der Flieder an der Hintertür hat sicher schon seine prallen kleinen Knospendolden, und die Forsythie vor dem Küchenfenster muss jeden Moment zu blühen beginnen - wenn sie nicht längst eingegangen ist, bei dem Saustall, in dem diese Menschen hier hausen. Wozu sich ein schönes Haus kaufen, nur um es mit Autowracks, Dreirädern, Planschbecken und Schaukelgerüsten zuzumüllen? Warum macht jemand so etwas?
Als sie die Kuppe erreichen, wo nur noch Wacholdersträucher und Blaubeeren wachsen, glitzert die Sonne so grell auf dem Wasser, dass Olive die Sonnenblende herunterklappen muss. An Moodys Jachthafen vorbei fahren sie hinunter in die kleine Senke, in der die Bonneys ihr Haus haben. »Jetzt muss ich bloß noch den Schlüssel finden, den sie mir gegeben hat«, sagt Molly und kramt in ihrer Handtasche. Sie hält einen Schlüssel hoch, als der Wagen zum Stehen kommt. »Stell dich ein bisschen weiter rein, Olive. Hier müssen eine Menge Autos hinpassen, wenn alle vom Friedhof kommen.« Vor Jahren war Molly Collins Hauswirtschaftslehrerin an der Schule, an der Olive Mathematik unterrichtet hat, und schon damals hat sie alle herumkommandiert. Aber Olive fährt ein Stück weiter nach hinten.
»Wahrscheinlich sollte sie den Laden wirklich verkaufen«, sagt Molly, während sie um das große alte Haus herum zur
Hintertür gehen. »Warum sich mit dem ganzen Kram belasten, wenn sie es nicht nötig hat?«
Und als sie in der Küche steht und sich umschaut, sinniert sie: »Und das Haus verkauft sie am besten auch gleich.«
Olive, die noch nie vorher hier war, findet, dass es abgewohnt aussieht. Nicht nur, weil vor dem Herd ein paar Bodenfliesen herausgebrochen sind oder weil die Arbeitsplatte am Rand Blasen wirft. Nein, alles hier hat so etwas Verbrauchtes. Als würde es auf dem letzten Loch pfeifen. Gut, auf dem letzten vielleicht nicht. Aber es setzt einem zu. Olive wirft einen Blick ins Wohnzimmer, wo ein großes Fenster aufs Meer hinausgeht. Eine Menge Arbeit, die hier anfällt. Andererseits ist es Marlenes Zuhause. Falls Marlene verkauft, müsste Kerry, die in dem Zimmer über der Garage wohnt, natürlich auch ausziehen. Tja, Pech, denkt Olive. Sie schließt den Schrank, in dem sie die Mäntel aufgehängt hat, und geht wieder zur Küche. Kerry Monroe hatte es vor ein paar Jahren auf Christopher abgesehen, sie hat Geld gewittert in seiner Praxis. Selbst Henry hielt es damals für nötig, ihn zu warnen. Keine Angst, sagte Christopher, sie ist nicht mein Typ. Was aus heutiger Sicht eine ziemliche Ironie ist. »Haha, ich lach mich tot«, sagt Olive zu niemandem, bevor sie in die Küche tritt und ein paarmal mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopft. »Gib mir was zu tun, Molly.«
»Schau nach, ob im Kühlschrank Milch ist, und füll sie in die Kännchen hier.« Molly trägt eine Schürze, die sie irgendwo in der Küche aufgetrieben haben muss. Vielleicht
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