Mit Blindheit Geschlagen
Illusion leben lassen, eine Versöhnung wäre möglich gewesen, wenn der Vater nicht gestorben wäre?
»Warst du schon am Grab?«, fragte die Mutter. Und Stachelmann wusste, sie würde ihn immer wieder fragen.
»Nein.« Sie schaute ihn traurig an, wollte einen Grund hören. »Beim nächsten Mal«, log Stachelmann. Sie nickte. Sie aßen den Kuchen und tranken Tee. »Ich weiß, dass du nicht völlig Unrecht hattest, und Vater hat es wohl geahnt. Aber was du nicht berücksichtigst, er hat auch viel Gutes getan. Das zählt doch auch.«
Sollte Stachelmann erwidern, das Gute sei selbstverständlich und das Schlechte kein Verrechnungsposten?
»Gewiss«, sagte er. »Ich habe nie behauptet, er sei ein schlechter Mensch. Er war ein Mensch wie Millionen andere. Es gibt Zeiten, da genügt das nicht.«
Die Mutter schwieg.
Stachelmann fragte sich, was sie damals gedacht hatte. War sie in der Partei oder in einer ihrer Organisationen? Hat sie mitgemacht bei der Winterhilfe? Hat sie bei Führerreden Heil geschrien? Hat sie gedacht, es werde schon seinen Grund haben, dass man die Juden fortbrachte? Hat sie den Krieg für richtig gehalten? Er fragte sie nicht.
Aber die Fragen ließen ihn nicht los. Er dachte noch darüber nach, als er nach Hause fuhr. Es gab nur wenige, die anständig geblieben waren damals, warum sollte gerade seine Mutter dazugehören? Vielleicht glaubte sie wie andere, das Unrecht werde Recht, wenn viele mitmachten. Was hatte der Vater gesagt? Es seien andere Zeiten gewesen, das verstehe Stachelmann nicht.
Die Autobahn glänzte vor Nässe. Es war längst dunkel. Die Wischer zogen Schlieren über die Windschutzscheibe, er hätte sie längst erneuern sollen. Ein Wagen raste an ihm vorbei und fuhr dicht vor ihm auf die rechte Spur. Ein paar Sekunden sah Stachelmann fast nichts mehr. Er schimpfte.
Als er an der Ausfahrt Reinfeld vorbeikam, fragte er sich, was ihn zu Hause erwartete. Wieder Musik? Am Montag würde er jemanden holen, der Wanzen suchte und eine Videokamera installierte. Der Druck auf dem Magen wuchs mit jedem Kilometer, den er sich Lübeck näherte. Er verließ die Autobahn in Lübeck-Mitte und fuhr über den Lohmühlenteller zur Fakkenburger Allee. Sein Hemd war schwitzig, auf der Stirn stand Schweiß. Er drehte die Heizung niedriger und öffnete das Seitenfenster einen Spalt. Er ist wieder da gewesen, bestimmt. Dann packte ihn der Zorn auf den Unbekannten, der ihm das Leben zur Hölle machte. Er hätte den Kerl umbringen können. Die Vernunft mahnte ihn, ruhig zu bleiben. Der will, dass du die Nerven verlierst. Einen anderen Zweck kann die Heimsuchung nicht haben. Also tu ihm nicht den Gefallen, bleib ruhig. Denk dir was aus, um dem Mann zu zeigen, du lässt dich nicht kleinkriegen. Er quetschte den Golf in einen Parkplatz an der Obertrave und blieb einen Augenblick sitzen, um die Nerven zu beruhigen. Er bereitete sich vor auf die Szene, die ihn erwartete. Musik, schon im Treppenhaus zu hören. Welches Stück darf es diesmal sein? Vielleicht Wagner, zur Abwechslung und weil es zum Wetter passt? Oder was Modernes? Oscar Peterson am Klavier?
Mit schnellen Schritten ging er zur Lichten Querstraße. Er öffnete die Haustür und stieg die Treppe hoch. Kurz vor dem ersten Stock blieb er stehen und lauschte. Er hörte nichts. Er schloss die Wohnungstür auf, keine Musik. Dann durchsuchte er die Räume. Als er im Wohnzimmer stand, bemerkte er einen Geruch, der war fremd. Es war nur ein Hauch, Stachelmann kannte den Geruch.
Was war es? Er überlegte. Zigarettenrauch. Es hatte niemand geraucht, aber es war ein Raucher in der Wohnung gewesen. Daran gab es keinen Zweifel. Es war derselbe Geruch, den Pakete mit sich trugen, die von Rauchern gepackt worden waren. Es war jemand in seiner Wohnung gewesen. Stachelmann schaltete den Computer ein, der startete normal. Er durchsuchte noch einmal die Wohnung. Es hatte sich nichts verändert. Doch er war sicher, wieder war jemand eingedrungen. Aber diesmal wollte er unbemerkt bleiben. Welchen Zweck konnte der Besuch haben? Wenn er erst jetzt eine Wanze eingebaut hatte, dann würde sie nicht lange verborgen bleiben. Morgen früh gleich würde Stachelmann einen Spezialisten rufen. Vielleicht hatte er die Wanze schon beim ersten Besuch eingebaut und sie war kaputtgegangen. Wartungsarbeiten gewissermaßen. Oder der Eindringling hatte etwas anderes hinterlassen. Stachelmann ging in der Wohnung umher und ließ die Augen schweifen. Nichts zu finden.
Er startete sein
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