Mit Blindheit Geschlagen
spürte, wie die Müdigkeit an seinen Nerven zerrte. Hatte es einen Sinn, sich zu wehren? Sie würden in die Anklageschrift schreiben, was sie wollten. Der Unterschied war nur, ob er gestand oder nicht. Ein paar Jahre mehr oder ein paar Jahre weniger. Und Helga?
Ihm fiel ein, wie er sie kennen gelernt hatte. Sie hatte im Seminar neben ihm gesessen, zufällig. In der Pause hatten sie begonnen zu witzeln über den Dozenten, der nicht zu übertreffen war an Langeweile. Die Geschichte ist die Geschichte von Glassengämbfen, rezitierte er, ohne jemals seine Stimme zu heben oder zu senken. Das Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität war aber kein Glassengambf, sondern eine Strafe, vor allem das Grundstudium. »Eine marxistischleninistische Glibbschule«, sagte Helga, als sie sich abends in einer Kneipe trafen. Und er bedauerte es, dass sich Geschichte nicht mit K schrieb. Es war selbstverständlich, dass sie zusammenblieben. So hielten sie es besser aus. »Ob Marx gewollt hätte, dass wir ihn auswendig lernen?«, fragte Helga.
Und er fragte: »Ist das überhaupt Marx, was wir auswendig lernen?«
Sie vertrauten sich, ohne sich geprüft zu haben. Es war keine Zeit für Witze. Hätte Helga ihn verpfiffen oder er Helga, dann hätte ihnen die FDJ-Leitung wenigstens eine Rüge verpasst. Oder die Direktion hätte sie verwiesen von der Universität.
»Das gefällt mir«, sagte der Vernehmer. »Sie denken nach.
Lassen Sie sich Zeit. Wir haben es nicht eilig, wir sind gründlich. Die Wahrheit braucht ihre Zeit.« »Haben Sie studiert?«, fragte der Gefangene den Vernehmer.
»Sind wir jetzt beim gemütlichen Teil?«, fragte der Vernehmer. Er zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen, er sei nicht so pingelig. »So was Ähnliches. Wir haben da eigene Einrichtungen.«
»Haben Sie M-L studiert?« »Natürlich.« »Und wie fanden Sie das?« »Es ist doch gut, wenn man weiß, wie die Welt funktioniert.« »Die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« »Genau.« »Und wir sind auf der Seite der Sieger.« »Sie nicht«, sagte der Vernehmer. Er lächelte, wie um dem Satz die Schärfe zu nehmen.
6
Er verfluchte sich dafür, dass er sich eingelassen hatte auf die Tour nach Berlin. Beim Frühstück mühte er sich, die Sache zu einem Ausflug umzudenken. Er war schon lange nicht mehr in Berlin gewesen, seit dem Fall Holler nicht. Er suchte seinen Autoatlas und fand ihn in einem Schreibtischschubfach. Kauend fuhr er mit dem Finger von Lübeck nach Spandau. Die Strecke war einfach, wenn er sich beeilte, war er am Abend wieder zu Hause. Dann hatte er seine Pflicht getan und konnte sich Meyerbecks Akten und seinen Studenten widmen, endlich auch seiner Habilitationsschrift. Dann mochte Griesbach bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Stachelmann ärgerte sich über Griesbach. Kein Zweifel, der Herr amüsierte sich irgendwo, und es war ihm egal, ob sich jemand sorgte. Die Fahrtkostenabrechnung, werter Herr Kollege, wird nicht auf sich warten lassen. Das kostet Sie mindestens ein opulentes Essen im teuersten Fresstempel an der Elbchaussee.
Er packte ein paar Sachen ein für den Fall, dass er über Nacht bleiben musste. Dann fuhr er los. Hochnebel tauchte alles in Grau. Er stellte den Scheibenwischer auf Intervall, um die feinen kalten Regentropfen wegzuwischen. Der Geruch von Schnee lag in der Luft.
Stachelmann überlegte, ob er NDR 2 hören sollte wegen des Verkehrsfunks, aber dann verzichtete er auf die Warnung vor Staus, in denen man meist schon stand, wenn man gewarnt wurde. Auf NDR 3 fand er die Übertragung eines elegischen Mozartkonzerts, das zum Wetter so gut passte wie zu Stachelmanns Laune. Aber du bist ja selbst schuld. Macht dir eine schöne Augen und ein bisschen mehr, schon bist du Wachs in ihren Händen. Wenn er zurück war aus Berlin, dann hatte er seine Hilfsbereitschaft gezeigt, kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Er schimpfte leise vor sich hin über ein Elefantenrennen, das sich über Kilometer hinzog, obwohl es Lastwagen hier verboten war zu überholen. Die Laster blieben das einzige Hindernis auf dem Weg nach Spandau.
Karsten Pawelczyk wohnte in einer Einfamilienhaussiedlung, sie ähnelte der Gegend, wo seine Mutter lebte. Er hätte sie längst besuchen sollen. Stachelmann fand gleich die 7. Es war ein zweistöckiges Haus aus sandfarbenem Klinker mit einem eingelassenen Balkon unter dem Spitzdach. Über dem Balkon war die Mauer holzvertäfelt. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Gittern
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