Mit Blindheit Geschlagen
hatte die Zahnreinigung beendet und betrachtete Stachelmanns Teller.
»War auch schon mal mehr«, sagte er.
»Kann sein«, erwiderte Stachelmann und erntete einen kalten Blick.
Der Alte stand auf und ging grußlos.
Stachelmann hatte wenig Hunger, aber er aß Brötchen und Brote auf. Als er fertig war, schaute er in den Schnee und den Grauschleier, den der Hochnebel über ihn legte.
Der Zug wurde langsamer, dann quietschten die Bremsen. Er hielt auf freier Strecke. Die Lichter flackerten. Stachelmann winkte dem Kellner, der sah ihn und ließ ihn einige Minuten warten. Als er kam, bezahlte Stachelmann und fragte, warum der Zug halte. Der Kellner zuckte mit den Achseln und gab das Restgeld heraus. Dann räumte er den Tisch ab. Stachelmann blieb eine Weile unschlüssig sitzen. Dann ging er zurück ins Abteil. Die Kleine schlief, die Knistertüte in der Hand, die Mutter blätterte in der Zeitschrift. Sie sah müde aus. »Tut mir Leid«, sagte sie.
»Ist gut.« Er hob seine Reisetasche von der Gepäckablage und fand nach einigem Suchen die Historische Zeitschrift. Er blätterte mehr, als er las. Er konnte sich nicht konzentrieren. Die Kleine prustete, dann schlief sie weiter.
Der Zug stand immer noch. Endlich kam eine Durchsage. Ein Ast sei auf die Oberleitung gefallen durch die Last des Schnees, deshalb sei die Strecke gesperrt. Sie müssten zurückfahren bis kurz vor Hamburg-Harburg, dort gebe es einen Abzweig auf eine andere Strecke. Die Verspätung betrage schätzungsweise eine Dreiviertelstunde, die meisten Anschlusszüge in Hannover und später würden nicht erreicht. Dann bat der Sprecher um Entschuldigung.
Die Frau stöhnte. »Auch das noch«, sagte sie.
Stachelmann vertiefte sich in seine Fachzeitschrift, in der das Buch eines englischen Historikers über den Ersten Weltkrieg besprochen wurde. Die deutschen Kriegsziele seien erst nach dem Kriegsausbruch bestimmt worden, sie könnten daher kein Kriegsgrund gewesen sein. Der deutsche Einmarsch in das neutrale Belgien sei einer britischen Invasion nur zuvorgekommen. Da auch die Briten die belgische Neutralität im Kriegsfall nicht achten wollten, könne deren Verletzung kein Grund gewesen sein für Londons Eintritt in den Krieg, sondern nur ein Vorwand. Stachelmann erfasste so etwas wie Neid, in Großbritannien fanden Historiker eher Gehör als in Deutschland, manche wurden zu Stars in den Medien. Und einige schrieben großartige Bücher mit neuen Thesen zu Themen, die die meisten Fachkollegen für beackert hielten. Was für ein trostloser Beruf, in Akten herumzuwühlen, um etwas zu veröffentlichen, das vielleicht ein paar hundert Leute gelangweilt überflogen.
Der Zug rollte an, es ging rückwärts. Die Kleine begann wieder zu knistern. Der Schaffner öffnete die Abteiltür.
»Zwei Personen«, sagte er und verteilte zwei Gutscheine.
»Die können Sie einlösen, wenn Sie das nächste Mal eine
Fahrkarte kaufen. Sind für die Verspätung.«
Stachelmann versuchte wieder zu lesen. Aber das Knistern raubte ihm die Aufmerksamkeit. Die Kleine gähnte.
»Wann sind wir denn endlich da?«, fragte sie.
Die Frau strich ihr über den Kopf. »Es dauert noch ein bisschen, wegen des Schnees.«
Stachelmann legte die Zeitschrift auf den Nachbarsitz und schloss die Augen. Wieder näherte sich die Angst. Er mühte sich, sie zu vertreiben, indem er an Anne dachte. Aber irgendwie war sie weit weg. Ob sie jemals zusammenkamen? Manchmal schien es ihm, als sei nur noch ein Schritt nötig, doch dann war es wieder unvorstellbar.
Der Zug bremste, dann stand er. Draußen trieb der Wind die Schneeflocken vorbei am Fenster. Es knackte im Lautsprecher. Der Zugführer sagte, so etwas habe er noch nicht erlebt, auch auf der Ausweichstrecke sei ein Ast auf die Oberleitung gefallen, deshalb sei sie ebenfalls gesperrt. Der Zug würde warten, bis sich herausstelle, welche der beiden Strecken zuerst frei sei. Der Schaffner würde bald weitere Gutscheine verteilen, da die Verspätung angewachsen sei.
Stachelmann verließ das Abteil und wählte auf dem Gang Pintus’ Nummer. Es meldete sich nur ein Anrufbeantworter. Stachelmann sagte, er müsse die Verabredung auf morgen verschieben, da sein Zug liegen geblieben sei. Dann machte er einen Spaziergang durch die Waggons.
Während er lief und die Leute in den Großraumwagen und Abteilen betrachtete, überlegte er, ob einer der Reisenden ihn verfolgte. Es wäre nur logisch, wenn der Mörder herauskriegen wollte, was Stachelmann unternahm.
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