Mit deinen Augen
ich. Es ist so traurig.«
»Ich weiß«, sage ich. »Was hast du Scottie gesagt? Weiß sie jetzt Bescheid?«
»Das gerade - das mit der Hand - sie glaubt, es hat etwas zu bedeuten. Sie denkt, Mom wird vielleicht doch wieder gesund.«
»Okay.«
»Nein«, erwidert sie. »Es ist nicht okay. Es ist überhaupt nicht okay! Du musst mit ihr reden, Dad. Du schreist sie an, weil sie nichts kapiert und sich nicht angemessen verhält, aber sie hat doch keine Ahnung, was los ist. Und du kannst nicht von mir verlangen, dass ich das übernehme. Sie braucht dich .« Alex steht auf und geht.
»Wo gehst du hin?«
Sie reagiert nicht auf meine Frage, also folge ich ihr. Die Bestattungsvorschläge lasse ich liegen.Wir gehen am Zimmer des populären Patienten vorbei, und es wirkt noch einsamer als die anderen Zimmer. Die Luftballons werden schrumpelig, ein paar der Blumen in den Vasen lassen die Köpfe hängen, und bei dem Lei, der am Türknauf hängt, ist die weiße Schnur zwischen den verwelkten Blüten sichtbar.
Eine Frau steht am Fußende des Bettes. »Ich bin nur eine Aushilfskraft«, sagt sie zu dem Patienten. »Ich darf Sie nicht anfassen.«
Alex geht zu den Aufzügen gegenüber vom Geschenkeshop.
»Da drin habe ich dich gefunden.« Ich deute auf den Laden. Sie versteht nicht gleich, aber dann sieht sie den Postkartenständer.
»Toll«, sagt sie. »Das ist doch wirklich toll.«
»Ich habe sie gekauft und weggeworfen.«
»Danke.«
Ich schaue den Gang hinunter, in der Hoffnung, Scottie zu entdecken, aber sie ist nirgends. Sie ist noch in Joanies Zimmer. Aber wenn ich das eine Mädchen hole, muss ich das andere allein lassen.
Ich entscheide mich für Scottie, für das Baby, das zitternde kleine Mädchen. Der Aufzug öffnet sich. Ein Mann mit Tropf kommt herausgeschlurft. Ich finde, er sollte sich beeilen, und muss an Sid denken, an seine Ungeduld mit langsamen Menschen, die ihn nerven, auch wenn sie schwach sind.
»Warte beim Auto auf mich«, sage ich zu Alex. »Ich gehe und hole Scottie.«
Ich bin etwas befangen bei dem Gedanken, dass ich sie gleich sehe. Soll ich mich entschuldigen? Aber sie musste es einfach tun. Sie musste Joanie anfassen.
Als ich mich dem Zimmer nähere, höre ich, wie Scottie sagt: »Ich habe wirklich ein gutes Auge für so was.« Ich bleibe in der Tür stehen. Sie redet mit ihrer Mutter. Ich trete einen Schritt zurück, aber weggehen kann ich nicht. Ich will sehen, was sich hier abspielt. Ich möchte hören, was sie sagt. Sie schmiegt sich an ihre Mutter; Joanies Arm hat sie so gedreht, dass er sie umschließt. Unwillkürlich denke ich: Sie lebt . Ich kann es kaum ertragen, Scottie so in den Armen ihrer Mutter zu sehen.
»Es ist da oben an der Decke«, sagt Scottie. »Ein süßes Nest. Es ist ganz golden und sieht weich und warm aus.«
Ich schaue hoch und sehe es. Aber es ist natürlich kein Nest, was da an der Decke klebt, sondern ein braunes Stück Banane, der letzte Überrest unseres Spiels. Des Spiels, das Joanie und ich manchmal gespielt haben und das meine Tochter und ich jetzt spielen werden.
Scottie stützt sich auf einen Ellbogen, beugt sich vor und küsst ihre Mutter auf den Mund, studiert ihr Gesicht, küsst sie noch einmal. Sie küsst sie immer wieder, eine exquisite Form der Mund-zu-Mund-Beatmung, jeder Kuss voller Erwartung, fast therapeutisch, und ich weiß, sie hat immer noch Hoffnung. Ich lasse ihr diese Hoffnung, den magischen Glauben an ein gutes Ende, den Glauben, dass die Liebe jemanden wieder zum Leben erwecken kann. Ich lasse sie weitermachen. Eine ganze Weile beobachte ich ihre Bemühungen, ich wünsche ihr sogar Erfolg, aber dann weiß ich, es ist Zeit: Ich muss eingreifen. Ich muss Scottie die richtigen Bezeichnungen der Dinge beibringen. Ich muss ihr die Wahrheit sagen.
Ich klopfe an die Tür. »Scottie«, sage ich.
Sie bleibt im Arm ihrer Mutter liegen, mit dem Rücken zu mir. Ich setze mich auf die Bettkante und lege meinen Kopf auf ihren Rücken, sodass ich ihren Atem spüre. »Scottie«, sage ich noch einmal.
»Was, Dad?«, sagt sie, und ich sage ihr alles, was jetzt passiert, und alles, was noch passieren wird, und ich komme mir vor wie der grausamste Mensch der Welt. Aber ich erfülle meine Pflicht so gut ich kann, und als ich fertig bin, bleiben wir noch lange so liegen, eine ganze Ewigkeit, Scotties Kopf an Joanies Brust und mein Kopf auf Scotties Rücken, der sich stoßweise hebt und senkt, im Gleichklang mit ihren schluchzenden Atemzügen. Ihr
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