Mit deinen Augen
klopft es heiß. Ich versuche krampfhaft, mir etwas einfallen zu lassen, ich krame nach Erinnerungen, nach Schlüsselworten, die Bilder auslösen, aber mir fällt nichts ein.Wir kennen uns, seit ich sechsundzwanzig war und sie neunzehn. Warum kann ich mich an nichts erinnern?
»Tag für Tag«, sage ich. »Zu Hause. Du bist da. Abendessen, Geschirr wegräumen, fernsehen. Die Wochenenden am Strand. Du gehst hierhin. Ich gehe dorthin. Partys.
Wieder zu Hause, um über die Partys herzuziehen. Autofahrten nach Hause auf dem Pali Highway, bevor sie dort Straßenlaternen aufgestellt haben.« Mehr fällt mir nicht ein. Ich kann nur an den Alltag denken, an unsere Routine. »Ich habe das alles geliebt«, sage ich und nehme ihre Hand.
Ich rede sonst nie so. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Joanie mich spöttisch angrinst. Alex fühlt sich spürbar unwohl, und auch Scottie macht ein Gesicht, als wäre ihr das alles extrem unangenehm, als würde es ihr Angst einflößen.
»Ich verzeihe dir«, sage ich und spüre Joanies Grinsen noch deutlicher.
Alex geht ums Bett herum und zieht Scottie von mir weg. Ich lasse sie nicht los und schaue auf Joanies Gesicht, auf diesen zufriedenen Ausdruck. Ich will diesen Ausdruck entziffern, ich will sie verstehen; es frustriert mich, dass sie so zufrieden aussieht. Ich beuge mich hinunter, bis mein Gesicht direkt vor ihrem ist, und sage: »Er hat dich nicht geliebt. Ich liebe dich.«
37
Warum ist es so schwierig, Liebe zu zeigen, während es uns leichtfällt, Enttäuschung auszudrücken? Ich gehe aus dem Zimmer, ohne etwas zu den Mädchen zu sagen. Links von der Tür ist eine dünne Glaswand, und ich schaue hinaus auf die dunklen Schatten der Palmen und die leeren Parkbänke. Ich sehe den riesigen Monkeypodbaum; sein Blätterdach scheint im Weltraum zu schweben. Irgendetwas schimmert zwischen den Zweigen, aber ich habe keine Ahnung, was das sein könnte. Ich gehe zu der Stuhlreihe auf der anderen Seite und setze mich hin, das heißt, eigentlich kollabiere ich. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, legt gerade ein junger Mann einen Zettel auf den Stuhl neben mir. Er geht weiter den Gang entlang und überreicht unterwegs jedem, der ihm begegnet, ebenfalls einen Zettel. Ich nehme den Zettel und erwarte eine Werbung für einen Schlussverkauf oder eine Speisekarte für einen chinesischen Lieferdienst. Aber es ist eine Liste von Bestattungsmöglichkeiten:
• Werden Sie Teil eines lebendigen Korallenriffs, wenn Sie diese Welt verlassen!
• Aloha-Bestattungen auf See - lassen Sie sich in einem Kanu hinauspaddeln und ins Wasser streuen!
• Schießen Sie Ihre Asche in die Umlaufbahn der Erde!
• Übergeben Sie Ihre Asche von einem Heißluftballon aus den vier Winden!
• Verabschieden Sie sich als Teil eines großen Feuerwerks!
Der letzte Vorschlag hat kein Ausrufezeichen. Er lautet:
• Vermischen Sie die irdischen Überreste eines geliebten Menschen mit der Erde eines lebendigen Bonsaibaumes. Eines wunderschönen Bonsaibaums, der hundert Jahre wächst und gedeiht, ohne komplizierte Pflege.
Unten steht ein Name, Vern Ashbury, sowie eine Telefonnummer, die ich anrufen soll, falls ich mich über die Kosten informieren möchte.
»Was ist das?«
Alex nimmt neben mir Platz.
»Ach, nichts«, sage ich, »irgendein Werbezettel.« Ich lege ihn umgedreht auf den Stuhl links von mir, damit sie ihn nicht lesen kann, und schließe wieder die Augen.
»Das war nicht gut«, sagt sie. »Du hättest das nicht tun sollen. Scottie ist total fertig. Sie ist doch noch ein Baby.«
»Sie ist kein Baby mehr.«
»Aber jetzt ist sie wieder eins«, sagt Alex.
»Ich muss nach Hause.« Ich öffne die Augen und richte mich auf. »Ich muss mit Sid reden. Und noch ein paar andere Dinge regeln.«
»Wieso musst du mit Sid reden?«
»Wieso hat seine Mutter ihn rausgeworfen?«
»Das musst du ihn schon selbst fragen.«
»Ich frage aber dich.«
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie. Ich glaube ihr.
»Wir haben keine Zeit für ihn, Alex. Es ist schlimm, dass er leidet, aber ich habe keine Zeit dafür. Sag ihm, er soll wegbleiben und uns nicht mit seinem Kram zusätzlich belasten. Vor allem, wenn er auf deinen Gefühlen herumtrampelt.«
»Okay«, sagt sie. »Wie du meinst.«
Sie greift über meinen Schoß hinweg nach dem Zettel. Ich beobachte sie, während sie die Vorschläge liest.
»Soll das ein Witz sein?«, sagt sie. »Vern Ashbury. Echt mal. Aber das mit dem Bonsai gefällt mir, glaube
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