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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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kleiner Körper ist wie ein angespannter Muskel, der immer noch Widerstand leistet, und ich weiß, sie glaubt es nicht so ganz. Wie könnte sie auch?

38
    Heute Abend sitzen die Mädchen, Esther und ich gemeinsam am Esstisch, etwas, was wir selten tun, höchstens an Thanksgiving und Weihnachten. Esther ist sonst nie dabei.
    »Wie lang ist es her?«, frage ich. »Dass wir das letzte Mal so gegessen haben, meine ich?«
    »Weihnachten«, sagt Alex.
    Als Alex klein war, hat sie eine Geschichte geschrieben, die wir an Heiligabend bei Tisch immer den Gästen vorgelesen haben - und erst am Schluss haben wir den Namen der Autorin genannt. Die Geschichte handelt von Joseph und beschreibt aus seinem Blickwinkel die Nacht, in der Jesus geboren wurde. Joseph fragt die Weisen aus dem Morgenland und die Tiere im Stall, was man für das Kind in der Krippe tun muss, und alle geben ihm gute Ratschläge. Am Ende der Geschichte ist Joseph bestens auf das Baby eingestellt, er kann es sogar wickeln, was ihm der Esel beigebracht hat. Als Joanie sich letztes Jahr erhob, um die Geschichte vorzulesen, riss Alex ihr den Text aus der Hand. Ich glaube nicht, dass die Gäste mitgekriegt haben, dass Joanie etwas Besonderes vorhatte, außer vielleicht unser Nachbar Bill Tigue, der erwartete, sie würde das Tischgebet sprechen: Er senkte den Kopf und schloss die Augen. An Weihnachten hat Alex gesehen, wie ihre Mutter ins Haus eines anderen Mannes ging. Eigentlich darf das nicht als unser letztes Mal zählen, und ich finde, heute Abend zählt auch nicht, weil wir nicht alle zusammen sind. Was wir nie wieder sein werden.
    »Also dann«, sage ich, »prost!«
    Niemand hebt das Glas. Esther trinkt ein Bier. Sie umschließt die Dose mit beiden Händen und hält sie im Schoß.
    »Will Sid nichts essen?«, erkundige ich mich. Sid sitzt im Wohnzimmer und sieht fern, und niemand redet von ihm, weshalb ich mich ganz unwohl fühle. Ich wüsste gern, ob Alex ihm gesagt hat, er soll mir aus dem Weg gehen.
    »Alles okay«, sagt Alex.
    Wir essen etwas, was ich zubereitet habe: Salat, gegrilltes Huhn, Reis und Brokkoli mit Sauce hollandaise. Ich warte die ganze Zeit, dass endlich jemand sagt, es schmeckt gut, und ich muss mich richtig beherrschen, um nicht nachzufragen. »Na ja, wir können ihm ja etwas übrig lassen. Falls er was will.«
    Esther spießt mit ihrer Gabel verschiedene Sachen aus dem Salat auf - die Tomaten, die Avocadostücke - und legt sie an den Tellerrad. Die Mädchen haben Sojasoße auf ihren Reis gekippt. Esther hat auf ihren außerdem noch einen Klecks Butter gegeben.
    »Haben Sie Schulen angerufen?«, will sie wissen. »Sie fehlen viele Tage.«
    »Ja«, sage ich.
    »Alex, du gehst zurück - wann?«
    »Sie geht nicht zurück«, sage ich.
    »Ah, gibt Probleme«, sagt Esther. »Ich weiß das. Ziemlich bald.«
    »Könnten Sie bitte in vollständigen Sätzen sprechen?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Ach, wenn nur. Wenn nur.«
    »Esther, was soll das heißen? Möchten Sie hierbleiben? Warum sagen Sie das nicht einfach?«
    Die Mädchen hören auf zu essen. Seit ich sie gezwungen habe, die Hand ihrer Mutter zu halten, sehen sie mich so an, dass ich mir vorkomme wie ein anderer Mensch. Sie sehen mich an, als wäre ich ihr Vater.
    »Ich will bleiben«, sagt Esther. »Also. Ich sage einen vollständigen Satz.«
    »Gut«, sage ich. »Dann bleiben Sie.«
    Sie lässt sich nicht anmerken, dass sie sich freut. Den Mädchen scheint es auch eher egal zu sein.
    »Ich stehe jetzt auf«, erklärt Esther. »Ich will nicht hier essen.«
    »Okay«, sage ich.
    Sie nimmt ihren Teller.
    »Sie können den Teller ruhig stehen lassen«, sage ich. »Ich räume nachher ab.«
    »Nein. Ich esse noch.« Mit Teller und Bier in der Hand stößt sie die Schwingtür zur Küche auf. Kurz darauf hören wir Stimmen, die rufen: »Glücksrad!«
    Ein Gecko krächzt in den Balken.
    »Ich gehe nicht zurück ins Internat?«, fragt Alex.
    »Nein«, sage ich, »du bleibst hier.«
    Eine Termite klettert auf meinen Reishügel. »Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass Sid immer alles in den Mund steckt?«, frage ich sie. »Seine Haare, sein Hemd, seinen Geldbeutel?«
    »Wie ein kleines Kind«, sagt Alex. »Ja, ich weiß.«
    Noch eine Termite. Sie will in mein Wasserglas. Die Termiten haben uns gefunden - über unserem Tisch brennt eine helle Lampe. Die Mädchen picken die Insekten aus ihrem Essen. Scottie stoppt ein paar, die über den Tisch krabbeln, und rupft ihnen die Flügel aus.
    »Sie

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