Mit deinen Augen
nicht wahr sein! Scottie darf sich nicht verpflichtet fühlen, solche Dramen zu inszenieren. Sie sollte sich nicht selbst wehtun. Sie sollte nicht das Gefühl haben, dass sie sich bepissen lassen muss. Aber die Sache ist die: Joanie fände diese Geschichte garantiert lustig. Ich denke daran, wie sie in unserer Anfangszeit war. Es machte ihr extrem viel Spaß, Dramen zu inszenieren, zu denen Schmerzen, Männer und Sex gehörten.
»Es ist aus«, sagte sie tausendmal. »Ich kann nicht jeden Abend zu Hause herumsitzen und glückliche Familie spielen. Ich finde, wir sollten uns mit anderen Leuten treffen.« Sie hat es nie getan. Sie blieb da. Sie konnte strahlender Laune sein und im nächsten Moment nörgelig und todunglücklich, aber sie blieb da. Ich frage mich, warum sie nicht einfach gegangen ist.
9
Scottie sitzt auf der Bettkante, als ich hereinkomme. Sie so nah bei ihrer Mutter zu sehen, macht mir fast Angst. Ein Polaroidfoto von Joanie liegt auf dem Bett. Joanie mit Make-up. Ihr vierundzwanzigster Tag. Ich mag das Bild nicht. Sie sieht aus wie einbalsamiert.
»Das gefällt mir nicht«, sage ich und deute auf das Foto.
»Ich weiß«, sagt Scottie. Sie faltet das Bild zusammen und zerdrückt es in der Hand.
»Hast du mit ihr geredet?«, frage ich.
»Ich muss noch ein bisschen daran arbeiten«, sagt Scottie. »Wenn Mom die Geschichte lustig findet - was passiert dann? Was ist, wenn das Lachen in ihren Lungen stecken bleibt oder irgendwo in ihrem Gehirn, weil es nicht rauskommt? Was ist, wenn das Lachen sie umbringt?«
»So funktioniert das nicht«, sage ich, aber ich habe keine Ahnung, wie es eigentlich funktioniert.
»Ich habe mir gedacht, dass ich die Geschichte trauriger mache. Dann hat sie nämlich das Gefühl, dass sie zurückkommen muss.«
»Die Geschichte ist schon traurig genug.«
Sie mustert mich verständnislos.
»Es kann doch nicht immer alles so kompliziert sein, Scottie.« Das sage ich mit strenger Stimme.
»Warum meckerst du mich an?«
»Du musst mit ihr reden.«
»Ich rede mit ihr, wenn sie aufwacht«, entgegnet Scottie. »Weshalb bist du sauer auf mich?«
Ich kann ihr nicht sagen, dass ich sauer bin, weil ich das Gefühl habe, ich verliere die Kontrolle. Ich kann Scottie nicht sagen, dass ich ihrer Mutter zeigen will, wie gut ich mit meiner Tochter zurechtkomme und dass ich sie in besserem Zustand zurückgebe als vorher. Ich kann ihr auch nicht sagen, dass ich nicht weiß, weshalb ich diesen verzweifelten Wunsch habe, dass sie mit Joanie redet, als bliebe nicht mehr viel Zeit.
Ich setze mich auf die Bettkante und betrachte meine Frau: das schlafende Schneewittchen. Ihre Haare sehen glatt und glänzend aus. Wie bei den Geburten. Ich lege mein Ohr an die Stelle, wo ihr Herz ist. Ich vergrabe mein Gesicht in ihrem Nachthemd. So nah war ich ihr schon lang nicht mehr.
Was treibt dich an, Joanie? Meine Frau, die Rennen fährt. Meine Frau, das Model, die Trinkerin. Ich denke an das Kärtchen, das blaue Kärtchen.
»Du liebst mich«, murmle ich. »Wir haben unseren speziellen Stil, und er funktioniert. Du kommst da wieder raus, stimmt’s?«
»Was tust du?«, fragt Scottie.
Ich hebe den Kopf, stehe auf und trete ans Fenster. »Nichts.«
»Wir müssen gehen«, sagt sie. »Ich brauche eine neue Geschichte.«
Ich erkläre ihr, dass wir noch nicht gehen können.Wir müssen auf Dr. Johnston warten. Und genau in dem Moment, als ich das sage, betritt er den Raum, die Augen auf seine Unterlagen geheftet.
»Hallo, Scottie«, sagt er. »Hallo, Matthew.« Er schaut auf, weicht aber meinem Blick aus. »Ich habe Ihnen gestern auf dem Gang nachgerufen. Haben Sie mich nicht gesehen?«
»Nein«, antworte ich.
»Hi, Dr. J.«, sagt Scottie. »Ich habe meiner Mom gerade eine tolle Geschichte erzählt.«
Lügnerin . Warum lügt sie? »Scottie, wie wär’s, wenn du runtergehst in den Shop und Sonnencreme für den Strand kaufst?«
»Ich hab welche in meinem Rucksack«, sagt sie.
Dieser blöde Rucksack! Offenbar ist da alles drin, was man je braucht. Genügend Vorräte für die nächsten zehn Jahre.
»Ich wette, da gibt’s auch Süßigkeiten«, sagt Dr. Johnston und holt eine Plastikkarte aus seinem Arztkittel. »Hier. Die kannst du verwenden.« Er wirkt gut gelaunt, geradezu optimistisch.
»Ich bin total satt«, sagt Scottie und setzt sich hin. »Ich bleibe hier. Ich möchte hören, was mit Mom ist.«
Dr. Johnston schaut mich an. Plötzlich wirkt er ratlos und erschöpft. Seine Schultern werden
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