Mit deinen Augen
ist Reina Burke, aber ich wollte lieber allein sein.«
Ich klappe die Augen auf, als ich »Reina Burke« höre, schließe sie aber sofort wieder und höre mir Scotties Geschichte an.
»Und da ist dieser supersüße Junge, der am Strandwächterposten arbeitet. Reina findet ihn auch süß. Seine Augen sehen aus wie Giraffenaugen. Also habe ich das Riff vor seinem Stand erforscht. Es war gerade Ebbe. Deshalb konnte ich alle möglichen Sachen sehen. An einer Stelle hatten die Korallen eine total coole dunkle Farbe, aber dann habe ich genauer hingeschaut, und es waren gar keine Korallen. Es war ein Aal. Eine Muräne. Ich bin fast gestorben. Und dann waren da noch tausend Millionen Seeigel und ein paar Seegurken. Ich habe sogar einen Seeigel in die Hand genommen und ihn gedrückt, so wie du’s mir mal gezeigt hast.«
»Das ist eine gute Geschichte, Scottie. Komm, wir gehen wieder rein. Mom freut sich bestimmt.«
»Ich bin noch nicht fertig.«
Ich mache die Augen wieder zu. Wenn ich mich doch hinlegen könnte! Irgendwie wäre das schön.
»Okay. Ich hocke also auf dem Riff, und da habe ich das Gleichgewicht verloren und musste mich mit den Händen abstützen. Mit einer Hand bin ich auf einem Seeigel gelandet, und er hat seine Stacheln ausgefahren. Die Handfläche hat ganz schlimm ausgesehen, wie ein Nadelkissen. Es tat unheimlich weh, aber ich hab’s überlebt. Ich bin wieder aufgestanden.«
Ich nehme ihre Hände und halte sie mir vors Gesicht. In der linken Handfläche stecken immer noch Seeigelstacheln. Sie haben sich ausgedehnt und sehen aus wie winzige schwarze Seesterne, die sich für immer in ihrer Hand einquartieren wollen. Ich entdecke auch ein paar Sterne in ihren Fingerspitzen. »Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du dich verletzt hast? Warum sagst du nichts? Weiß Esther Bescheid?«
»Es ist alles okay«, flüstert sie leise, als wäre ihre Mom hier und als würde sie nicht wollen, dass sie es hört. »Ich hab das gut hingekriegt. Ich bin eigentlich gar nicht hingefallen.«
»Was soll das heißen? Ist das Filzstift?«
»Ja?«
Ich sehe genauer hin. Ich drücke auf die Sterne.
»Aua«, sagt sie und zieht ihre Hand zurück. »Es ist kein Filzstift. Es sind Seeigelstacheln.«
»Warum hast du dann gerade gelogen?«
»Weiß ich nicht«, antwortet sie. »Es war keine so richtige Lüge. Ich bin nicht wirklich hingefallen.«
»Soll das heißen, der Seeigel ist hochgesprungen und hat dich attackiert?«
»Nein«, sagt sie.
»Sondern?«
»Ich habe mit der Hand draufgehauen. Aber den Teil will ich Mom nicht erzählen.«
»Wie bitte? Warum hast du draufgehauen? Scottie. Antworte mir. Hat Reina etwas damit zu tun?«
Sie scheint sich zu wundern, dass ich so aufgebracht bin. »Ich wollte doch nur’ne gute Geschichte.« Sie schiebt einen Fuß vor und legt den Kopf schräg.
»Spiel hier nicht das kleine Mädchen«, sage ich. »Das bringt jetzt nichts.«
Sie zieht den Fuß zurück.
»Hat das nicht wehgetan?« Ich stelle mir vor, wie sich die Stacheln ausdehen, das Blut, das Salz in den Wunden. Das ist psychotisch , will ich sagen. Das ist total gestört .
»Nicht besonders.«
»Red keinen Quatsch, Scottie. Das tut doch irre weh.« Ich bin fassungslos. Völlig fassungslos. »Und wo war Esther?«
»Willst du den Rest hören oder nicht?«, fragt sie.
Ich presse die Fingernägel in meine Handfläche, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie es sich angefühlt haben muss. Ich schüttle den Kopf, sage aber: »Ja, klar.«
»Okay. Dann tu wieder so, als wärst du Mom. Du kannst mich nicht unterbrechen.«
»Ich fasse es nicht, dass du dir das angetan hast.Wie bist du nur …«
»Du kannst nicht sprechen! Sei still, oder du kriegst den Rest nicht zu hören.«
Scottie erzählt weiter, und was sie erzählt, hat alle Elemente einer guten Geschichte: anschauliche Bilder, eine Krise, ein Geheimnis, Gewalt. Sie schildert, wie die Stacheln aus ihrer Hand herausragten und wie sie zurück auf den Felsenpier geklettert ist, als wäre sie eine Krabbe, der eine Schere fehlt. Ehe sie ans Ufer ging, blickte sie zurück aufs Meer und sah die Schwimmer, die um die Katamarane herumschwammen. Sie sagt, die Schwimmer mit den weißen Bademützen hätten ausgesehen wie entlaufene Bojen.
Ich glaube ihr nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie nicht angehalten hat, um aufs Meer hinauszuschauen. Bestimmt ist sie gleich zu Esther gerannt oder zum Sanitäter im Club. Sie erfindet die Details, entwirft eine gute Szenerie,
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