Mit deinen Augen
verstehe ja selbst nicht, was ich getan habe.«
Hier ist sie, die Angst, die Qual, deretwegen ich hergekommen bin, aber sie hat nichts mit meiner Frau zu tun oder damit, dass ich Bescheid weiß. Mir dämmert etwas, womit ich nicht gerechnet habe.
»Hat Joanie Sie geliebt?«, frage ich.
Er nickt und führt die Bierflasche an den Mund. Auf seinem Hosenbein ist ein feuchter Kreis zu sehen.
»Haben Sie Joanie geliebt?«, frage ich.
Er trinkt einen kräftigen Schluck und setzt das Bier wieder ab, sodass die Unterseite der Flasche genau auf dem Wasserkreis steht.
»Sie haben sie nicht geliebt.« Ich muss es noch einmal sagen: »Sie haben sie nicht geliebt.« Ich höre die Brandung rauschen, und ein Luftschwall, der nach Salzwasser und Seegras riecht, schwappt in den Raum.
»Sie haben sie nur benutzt«, sage ich. »Um an mich ranzukommen.«
Er stößt einen Seufzer aus. »Nein. Ich wollte nicht an Sie rankommen. Es war eine Affäre. Eine Romanze. Sex.« Er studiert mein Gesicht, um festzustellen, ob ich mich aufrege. »Alles, was darüber hinausging, kam von ihr, und ich habe nur mitgemacht.«
Seine Schultern sacken herunter. Es ist, als würden wir Scharade spielen und als hätte er sein Wort endlich so dargestellt, dass ich die richtige Antwort gefunden habe.
»Und gleich nach dem Verkauf wollten Sie sie wieder loswerden«, sage ich. »Ich nehme an, die Entwicklung der Ereignisse ist also ganz in Ihrem Sinn. Joanies Lippen sind versiegelt, und Sie brauchen sich nicht einmal die Mühe zu machen, sie abzuservieren.«
»Ich habe doch gar nicht versucht, mit ihrer Hilfe Kontakte zu knüpfen!«, ruft er und steht auf. »Sie war wie besessen von der Idee. Ich habe sie nicht um Hilfe gebeten. Ich habe sie nie um irgendetwas gebeten.« Er geht ans Fußende des Sofabetts und wieder zurück, den Blick zur Decke gewandt.
Ich kann mir das bei Joanie gut vorstellen. Sie übernimmt gern Projekte, die nicht für sie gedacht sind. Sie will formen, gestalten. Ich denke an Alex und auch an mich, an Joanies Versuche, uns umzuformen. Ich stehe nun ebenfalls auf und gehe in Richtung Fenster, bleibe aber mitten im Raum stehen. »Die Ärmste«, murmle ich. Meine Frau war blind. Sie hat nichts kapiert, aber sie wird nie erfahren, wie schlimm es war. Zum ersten Mal erscheint mir Joanie schwach.
Ich betrachte Alex’ Profil. Sie dreht den Kopf, sieht mich, und mich überläuft eine Gänsehaut. Das ist meine Tochter, die mich da anschaut , denke ich. Ich habe sie gemacht. Ich habe dieses junge Mädchen gemacht .
»Gehe ich also richtig in der Annahme, dass Sie nicht das Bedürfnis haben, sich von ihr zu verabschieden?«
»Ich liebe Julie sehr«, sagt er. »Ich liebe meine Familie.«
»Ich liebe meine Familie ebenfalls.« Ich reiche Brian meine leere Bierflasche.
»Wollen wir …« Er deutet auf die Gittertür. »Oder möchten Sie noch etwas sagen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Müssten Sie nicht bei ihr sein?«, fragt er.
»Doch«, sage ich und gehe zur Tür, vorbei an den Bildern meiner Vorfahren, an den grimmigen Daguerreotypien, die hier an der Wand hängen. Ich gehe an meinem Ururgroßvater vorbei, der beleidigt und gnadenlos dreinschaut. Seine ernsten dunklen Augen folgen mir, glaube ich.
Brian verschwindet in die Küche, um die Flaschen wegzuräumen und die Gläser in die Spüle zu stellen. Ich stoße die Gittertür auf und trete hinaus ins Freie.
»Danke für Ihre Gastfreundschaft«, sage ich zu Julie Speer.
»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind«, entgegnet sie. »Jetzt habe ich das Gefühl, Sie richtig gut zu kennen - nach den Ereignissen heute und nach Alexandras Geschichten.« Sie lächelt Alex liebevoll zu.
»Mir kommt es auch so vor, als würde ich Sie kennen«, sage ich. Durch die Gittertür sehe ich Brian. Sein Gesicht ist hellwach, sein Blick forschend. »Wir haben vieles gemeinsam, glaube ich.« Ich nehme ihre Hand und drücke sie.
Sie erwidert den Druck. Ihre Handfläche ist feucht. Dann entzieht sie sich sanft. »Tschüs, Alex«, sagt sie noch. »Vielleicht sehen wir uns ja morgen am Strand.«
»Gute Nacht«, sagt Alex. Sie geht die Stufen hinunter, betritt den dunklen Rasen. Der Himmel ist mit Sternen übersät, der Mond eine hauchfeine Sichel.
Während Alex sich langsam entfernt, gehe ich noch einmal zurück zu Julie und küsse sie. Ich beuge mich über sie, öffne die Lippen und küsse sie.Weil ich es will, weil sie zu Brian gehört, weil wir ein ähnliches Schicksal erlitten haben, weil ich will, dass
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