Mit dem Wolf in uns leben. Das Beste aus zehn Jahren Wolf Magazin (German Edition)
einer Einsatztruppe aus Polizei, Jägern, Förstern und Experten forderten, um den Wolf unverzüglich zur Strecke zu bringen. Schließlich stellte er ja eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Andere wollten erfahrene Wolfsjäger aus dem Ausland einfliegen lassen. Manch einer machte Vorschläge, wie man den Wolf fangen oder betäuben könnte, um ihn an einen Zoo zu übergeben oder ins Ausland zu fliegen. Man verwies auf das Tier- und Artenschutzgesetz, zeigte sich besorgt wegen der Menschen in den betroffenen Gebieten, appellierte an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren, oder versuchte darzulegen, dass der Wolf keine blutgierige Bestie sei und keine Menschen angreifen würde. Einige wenige Stimmen brachten auch ihre Freude über die Rückkehr der Wölfe zum Ausdruck und forderten dazu auf, ihnen endlich ihren angestammten Platz in diesem Lebensraum wieder zuzugestehen.
Selbst ernannte wie tatsächliche Experten meldeten sich zu Wort, verschiedene Organisationen und Vereine, beunruhigte und verängstigte Bürger, Beamte und Behörden. Schafhirten und Bauern forderten Ersatz für Tiere, die der Wolf gerissen haben sollte, Anwohner beschwerten sich über die vielen Menschen, die durch den Wald trampelten, und so mancher herumstreunende, große, schwarze Hund hatte alle Mühe, einer Kugel oder Schrotladung zu entkommen, mit der jemand dem verhassten Wolf den Garaus bzw. sich selbst berühmt machen wollte.
Immer neue Artikel und Statements gingen durch die Medien – blutrünstige, sachliche, hoffnungsvolle, erstaunte, entsetzte, freudige und fragende. Während die meisten eindeutig gegen den Wolf Stellung bezogen oder seine Anwesenheit und Existenzberechtigung dort zumindest infrage stellten, gab es auch eine kleine Minderheit von Menschen, die der Diskussion mit Hoffnung und Bangen folgte und sich für den Wolf einsetzte. Forderungen wurden laut, man möge ihn doch in Ruhe lassen oder in einen der Nationalparks übersiedeln. Die Diskussion wogte hin und her, doch schien sich die öffentliche Meinung ganz allmählich von vielfältigen Klischees und scheinbar uralten Ängsten hin zu mehr Sachlichkeit und Akzeptanz zu verlagern.
Der Wolf hingegen blieb verschollen. Seine Spur verlor sich in einem diffusen Wust zweifelhafter Meldungen. Manche behaupteten, sie hätten ihn erlegt, konnten aber den Beweis dazu nicht antreten. Andernorts munkelte man, er wäre überfahren worden oder gar verhungert, und nicht wenige hofften, er möge wieder dorthin zurückgegangen sein, von wo er gekommen war.
Bald waren es die Medien müde, den vielen Anrufen und Hinweisen nachzugehen, und auch die Leser und Zuschauer wurden des Themas allmählich überdrüssig. Die Diskussionen schliefen ein, andere Nachrichten drängten sich in den Vordergrund und ließen den Wolf nach und nach in Vergessenheit geraten. Bald gaben es auch die letzten auf, ihm aufzulauern oder ihn herbeilocken zu wollen, und die Förster und Jäger gingen wieder zur Routine über.
Der Winter war hereingebrochen, und der erste Schnee sowie das damit verbundene Verkehrschaos sorgten für zahlreiche neue Schlagzeilen.
An einem klaren, kalten Abend – mehr als zwei Monate waren seit dem Tag vergangen, an dem Paul H. den Wolf entdeckt hatte – nutzte ein junges Paar die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu einem Spaziergang durch die weitläufigen Mischwälder, die ihr Heimatdorf umgaben. Ihre Schritte knirschten im Schnee, während sie Hand in Hand einem kleinen, verschlungenen Pfad folgten.
Plötzlich blieb die Frau stehen.
„Da! Sieh doch!“
Der Mann blickte in die Richtung, in die sie deutete. Auf einem Kamm, nicht einmal hundert Meter entfernt, zeichnete sich die Silhouette eines großen Wolfes gegen das Zwielicht des Abendhimmels ab. Er musste sie bemerkt haben, denn er rannte mit einer unbeschreiblichen Eleganz und Behändigkeit einen tief verschneiten Hang hinauf, der in den dichten Laubwald darüber führte. Kurz bevor er das schützende Unterholz erreichte, blieb er stehen, um sich noch einmal nach ihnen umzuschauen.
So, wie er dort stand und auf sie hinunter sah, bot er einen faszinierenden Anblick. Der Schnee, der sich entlang seines Rückens auf das dunkle Fell gelegt hatte, gab ihm den verwegenen Ausdruck eines Ausgestoßenen, der jedem Wind und Wetter trotzte und sich mit viel Geschick, Instinkt und weiser Voraussicht dem Zugriff seiner Verfolger immer wieder entzog. Er mochte vielleicht nicht wissen, dass eine Kugel schneller
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