Mit der Hoelle haette ich leben koennen
aus sah ich überdeutlich einen Brei aus Menschenfleisch, der einst ein Kind gewesen sein musste und nun vor mir auf einer Liege lag. Es war offensichtlich ein Junge, der auf eine Mine getreten war. Seine Eltern brachten das lebende Menschenfleisch zu uns. Ich schloss einen Moment die Augen und presste mir die Zeigefinger an die Schläfen.
Da kam auch schon Balduin, der diensthabende Anästhesist, ein Mittfünfziger mit Brille. Aufgeregt sagte er: »Dani, du musst dich umziehen. Wir haben eine OP angesetzt. Bitte beeil dich.
Du sollst dem Arzt übersetzen. Für den Fall, dass der Kleine aus der Narkose erwacht.«
Wie der Blitz raste ich in die OP-Schleuse, um mich umzuziehen. Zog ein OP-Hemd, eine OP-Hose und sterile Schuhe an. Zwei Minuten waren vergangen, da steuerte ich auf den Ausgang der Schleuse zu.
Als ich den Operationssaal betreten wollte, kam Balduin auf mich zu, schaute mich traurig an, schüttelte den Kopf, streifte sich den Mundschutz ab und suchte meinen Blick. »Zieh dich wieder um. Der Junge hat es nicht geschafft. Wir müssen zu seinen Eltern.«
»Hilfe«, murmelte ich nur.
Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals langsamer umgezogen zu haben als an jenem tragischen Tag. Eine ganze Weile saß ich reglos da und hoffte, dass meine Kameraden mir ein bisschen Zeit ließen, ehe ich den Eltern des toten Jungen gegenübertreten musste.
Als ich aus der Schleuse trat, hörte ich die Grillen zirpen. Zögernd wechselte ich in den Untersuchungsraum, stellte mich neben Balduin und begrüßte die Eltern des verstorbenen Jungen.
Sie waren noch jung, schätzungsweise Mitte zwanzig. Sie saßen auf harten Stühlen im Untersuchungsraum, blickten uns aus ihren dunklen Augen fragend an und fassten sich an den Händen. Der Mann, ein recht großer, stämmiger Einheimischer, streichelte seiner schmalen, erschöpft aussehenden Frau zärtlich über den Handrücken. Sie hatten sichtbar Angst.
»Sag ihnen, dass ihr Sohn an der Schwere seiner Verletzungen verstorben ist«, wies mich Balduin an.
Ich schluckte nur.
»Sag ihnen, dass er vor einer halben Stunde von uns gegangen ist«, fügte Balduin hinzu und sah mich erwartungsvoll an.
Mir schwirrte der Kopf, nirgends ein klarer Gedanke.
Was sollte ich nochmal sagen?
Wie hieß das, was ich sagen sollte, auf Kroatisch?
Die mir so vertrauten Vokabeln waren auf einmal fort, mir fiel kein Wort mehr ein.
Konzentration, Konzentration, impfte ich mir ein, doch ich war hoffnungslos leer.
»Was ist?«, fragte Balduin und legte mir eine Hand auf die Schulter, was ich als Aufforderung verstand, endlich seine Worte zu übersetzen.
Die Eltern des toten Jungen hatten gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und wurden nervös. Der Vater stand auf und machte einen Schritt auf uns zu, doch noch ehe er etwas sagen konnte, hob ich die Hand. Er schloss seinen Mund wieder.
»Vas sin je umro«, war alles, was ich stammeln konnte. Das hieß: Ihr Sohn ist gestorben.
Der Vater des Jungen blieb stehen, schaute mich völlig entgeistert an und fragte mich, was passiert sei.
»Vas sin je umro.« Kein Wort des Trostes. Ich steckte fest.
»Kad?«, fragte mich die Mutter.
Balduin stand zwischen uns und schaute von einem zum anderen, ohne jedoch einzugreifen.
»Vas sin je umro«, wiederholte ich zum dritten Mal. In mir war nicht mehr als das.
Langsam lehnte sich die Frau gegen die Schulter ihres Mannes und fing leise an zu weinen. Der Vater des Jungen musterte mich intensiv, nickte schließlich Balduin und mir zu. Dann verließen er und seine Frau ohne ein weiteres Wort den Behandlungsraum.
Hilflos starrte ich den beiden hinterher. Eine immense Trauer hatten diese Eltern zu bewältigen. Aber auch organisieren mussten sie. Die Glaubensregeln des Islam verlangten, dass ein jeder
Leichnam innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Eintritt des Todes beerdigt werden musste. Sie würden also den Jungen spätestens am nächsten Morgen bei uns abholen. Alleine damit wären diese beiden jungen Menschen überfordert. Und mit dem Tod ihres Kindes ohnehin.
Durch den Hinterausgang lief ich aus dem Feldlazarett. Ich wollte nur noch weg, weg von diesem Ort des Grauens.
Da hörte ich hinter mir Balduins eilige Schritte. »Warte mal, Dani!«
Unbeirrt ging ich weiter, denn ich wollte nur noch alleine sein, um endlich den Tränen freien Lauf zu lassen.
Kurz vor der »Bronx« holte Balduin mich ein und stellte sich mir in den Weg. Er fragte: »War es das erste Mal, dass du eine Todesnachricht überbringen
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