Mit der Hoelle haette ich leben koennen
und den Raum verließ.
In all den Wochen, die das Mädchen bei uns war, sprach es kein einziges Wort mit mir. Tag für Tag, Nacht für Nacht, wann immer es meine Zeit erlaubte, besuchte ich sie. Ich redete auf sie ein, flüsterte ihr immer wieder zu, dass sie sich nicht zu fürchten brauche, und streichelte ihr die dünnen Ärmchen. Dabei war ich stets bemüht, die Familie des Mädchens mit keinem Wort zu erwähnen. Stattdessen erzählte ich von meiner Nichte, die ich sehr vermisste, von meinem Neffen, der vor kurzem erst geboren worden war, den ich also noch nicht kannte.
Außerdem erzählte ich der Kleinen einige von den Geschichten, die mir meine Oma vorgelesen hatte, als ich selbst noch ein kleines Mädchen war, und berichtete ihr, was ich den Tag über so alles erlebte.
Nichts.
Gar nichts.
Sie redete nicht mit mir.
Die Wochen vergingen, der Zustand des Mädchens wurde stabiler, und meinen Kameraden gelang es nach intensiver Suche, einige von ihren Verwandten ausfindig zu machen. Über kurz oder lang musste die Kleine die Intensivstation verlassen, und ich war erleichtert, dass sie dann nicht alleine auf der Welt sein würde.
Obwohl man bei unseren Begegnungen keinesfalls von einem Dialog sprechen konnte und ich in erster Linie dem kleinen Mädchen einfach nur beistehen wollte, vermag ich bis heute nicht mit Sicherheit zu sagen, wer da eigentlich wem geholfen hat. Ob in jenen Tagen nicht etwa das Mädchen mein Rettungsanker war. Ein Anker, der mir die Gelegenheit bot, all meine Sehnsüchte, Verlustängste und einiges an Unsicherheiten loszuwerden.
Eines dagegen gilt als sicher: dass die Kleine nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie wichtig sie für mich war, wie viel sie mir in jenen schweren Stunden gegeben hatte.
Als ich, lange nach der Einlieferung des Mädchens, in einer freien Stunde auf meinem Feldbett lag und döste - ich hatte mir die Nacht bei einem Einsatz um die Ohren schlagen müssen -, spürte ich auf einmal, wie mich jemand sanft, aber bestimmt am T-Shirt zupfte.
Erschrocken fuhr ich hoch - und blickte in ein kleines, lächelndes Gesicht. Mit großen Augen schaute mich das Mädchen an und gab mir gestenreich zu verstehen, dass es sich von mir verabschieden wolle. Die Wunden waren so gut verheilt, dass die Ärzte die Kleine zu ihren Verwandten schicken konnten.
Erst schaute ich etwas ungläubig - war ich wach oder träumte ich? -, dann bedeutete ich dem Mädchen mitzukommen und machte mich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach einem albanischen Sprachmittler. Mit dessen Hilfe überwanden wir die Sprachbarriere.
»Jedes Mal, wenn du mich besuchen kamst, wusste ich, dass bald Schlafenszeit war«, berichtete sie mir.
»Stimmt, ich war immer sehr spät dran«, sagte ich und dachte daran, dass es auf der Intensivstation keine Fenster gab und die Patienten daher oft schon nach einem Tag jedes Zeitgefühl verloren.
»Schön, dass du da warst«, sagte mir das Mädchen. »Dafür bin ich dir sehr dankbar.«
Ich lächelte verlegen.
Vor meinem inneren Auge zog unterdessen eine Szene aus »Der kleine Prinz« vorbei: Der kleine Prinz hatte sich dem Fuchs täglich nur einen Schritt nähern dürfen. Erst als er ihn zähmte, duldete der Fuchs seine Nähe.
Nach einer Weile bat das Mädchen darum, sich mit mir fotografieren lassen zu dürfen. Nur zu gern erfüllte ich ihr, vor allem
aber mir selbst, diesen Wunsch. Wir organisierten schnell einen Fotoapparat, das Mädchen umarmte mich, wir lächelten beide in die Kamera - klick! Es war seit Langem das erste Mal, dass ich mich glücklich fühlte - und sogar so etwas wie Stolz empfand …
Es war ein unendlich bereicherndes Gefühl, dieses Kind, das nahezu unheilbare Verletzungen an Körper und Seele erfahren hatte, auf seinen eigenen Beinen mein Zelt verlassen zu sehen. Meine Worte, oder zumindest das, was ich damit vermitteln wollte, hatten das Mädchen also doch erreicht.
Ich bezweifle allerdings, dass ich für das Mädchen so viel tun konnte, wie es mit seiner Umarmung und dem Erinnerungsbild von uns beiden, das einen Ehrenplatz in meiner Wohnung hat, für mich getan hat. Ich habe den Namen des kleinen albanischen Mädchens nie erfahren, und dennoch ist mir das Kind präsenter als so manch anderer Mensch in meinem Leben. Bis heute bedauere ich, dass ich ihr niemals erzählt habe, worüber ich Abend für Abend an ihrem Bett nachdachte. Darüber nämlich, wie sehr ihre Anwesenheit mein Leben bereichert hat.
Durch dieses Mädchen habe ich letztlich so
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