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Mit der Hoelle haette ich leben koennen

Titel: Mit der Hoelle haette ich leben koennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Matijevic
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nach.

    Vorsichtig drangen Björn und ich durch die tiefe Dunkelheit zum Kühlcontainer vor. Wir mussten bei sechs Verstorbenen Herzschlag und Pupillenreflexe kontrollieren. Björn untersuchte die Toten vorschriftsgemäß. Zuletzt kam ein kleiner Junge an die Reihe, vielleicht zehn Jahre alt, abgemagert. Er wirkte so unschuldig und verletzlich.
    Als Björn in dem dunklen Container mit seiner winzigen Taschenlampe die Pupillenreflexe des linken Auges bei dem Jungen überprüfen wollte, hörte ich ein Geräusch, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    Ein reißendes, schmatzendes Ritsch ! - uns bot sich der Anblick einer leeren Augenhöhle.
    »Da war kein Auge mehr drin. Deshalb hat Tim es zugenäht«, erklärte ich stockend und versuchte, gegen die aufsteigende Übelkeit anzukämpfen.
    Björn wich entsetzt zurück. »In Ordnung«, sagte er dann doch völlig gefasst. »Ich verschließe es wohl besser wieder.«
    Während ich Björn beim Nähen assistierte, atmete ich die ganze Zeit durch den Mund.
    Wie paralysiert verließen wir einige Zeit später den Container.
    Auf dem Weg ins Versorgungszelt blieb ich an einem Gebüsch stehen und atmete kräftig durch. Mit aller Mühe kämpfte ich gegen den Drang an, mich zu übergeben.
    Aber es half nichts.
    Zurück im Betreuungszelt, stand ich eine ganze Weile reglos da. Niemand sprach mich an. Jegliches Gefühl war aus mir gewichen. Ich war wie gefangen zwischen zwei Welten: auf der einen Seite meine Kameraden, meine Ersatzfamilie - auf der anderen Seite der Wahnsinn, der sich langsam, aber konstant einen Weg in mein Hirn fraß. Ein Wahnsinn, der mich quälte und erniedrigte, der mir Niederträchtigkeiten ins Ohr einpflanzte und mir
garantierte, dass diese Hölle hier nur den Anfang einer unkontrollierbaren, unbegreifbaren Pein darstellte.
    An jenem Abend sehnte ich mich verzweifelt an den Tisch im Betreuungszelt zurück - an jenen Tisch, wie er vor Björns Eintreffen gewesen war. Dass es mir weder gelang, mich erneut in eine fröhliche Stimmung zu versetzten, noch jenen Frieden zu spüren, der kurz vor dem Gang zum Kühlcontainer in mir war, brachte mich beinahe um den Verstand.

Das Schicksal macht Menschen wie uns
nicht zu Besiegten.
Es macht uns zu Anführern.
    6.
    Am nächsten Tag hatte ich Rufbereitschaft. Ich wartete mit einigen Kameraden vor unserer Unterkunft darauf, dass uns jemand anforderte. Ich hoffte sehr auf einen ruhigen Dienst, weil ich in der Nacht zuvor kein Auge zugetan hatte. Der Schrecken vom Kühlcontainer steckte mir noch in den Knochen.
    Wir redeten über die Erlebnisse der letzten Tage, wobei ich den Container nicht erwähnte, hörten Musik und genossen die Stille, die uns allzu selten vergönnt war. Leider sollte die Ruhe auch diesmal nur von kurzer Dauer sein. Ich hatte einen Tee in der Hand und pustete auf das heiße Getränk, als über Funk die krächzende Stimme des diensthabenden Arztes ertönte: »Rufbereitschaft Intensiv für OP, bitte kommen!«
    Sofort beschleunigte sich mein Puls.
    »Hier Intensivstation«, meldete ich mich. »Was gibt’s?«
    »Bitte finden Sie sich augenblicklich im Schockraum ein, wir haben einen Notfall.« Es klang mehr als eilig.
    Den Tee ließ ich stehen und rannte so schnell ich konnte ins
Feldlazarett. Ohne sie zu sehen, hastete ich an Soldaten und mit Stellwänden abgetrennten Untersuchungszimmern vorbei, bis ich vor dem Schockraum innehielt. Ein Atemzug und ich wusste:
    Blut.
    In Massen.
    Ich war gut zehn Schritte vom Schockraum entfernt und konnte den Verletzten bereits riechen. Mir war klar, dass der Anblick, der sich mir gleich bieten dürfte, nichts für schwache Nerven war. Ich hatte seit meiner Ankunft in Prizren viele Verletzte behandelt, der Umgang mit Blut, selbst in großen Mengen, war mir überhaupt nicht fremd, doch das, was ich bald sehen sollte, zog mir den Boden unter den Füßen weg.
    Nie hätte ich gedacht, dass ein einziger menschlicher Körper, ein so winziger noch dazu, derart viel Blut enthalten könnte. Selbst als ich vor wenigen Tagen einen Vater samt Sohn hatte verarzten müssen, die sich eine Messerstecherei geliefert hatten, war nicht so viel Blut geflossen. Da hatte der Sohn, ein junger Serbe, seinem Vater ein Brotmesser an die Kehle gesetzt und ihm in die Halsschlagader geschnitten.
    Im Schockraum wurden lebensgefährlich verletzte Menschen erstversorgt, bevor wir sie auf die Krankenstation verlegten. Ich sammelte mich, ehe ich diesen besonderen Raum betrat.
    Schon vom Türrahmen

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