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Mit der Hoelle haette ich leben koennen

Titel: Mit der Hoelle haette ich leben koennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Matijevic
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musstest?«
    Statt zu antworten warf ich mich ihm in die Arme. In mir brachen alle Dämme. Balduin hielt mich fest, streichelte mir sanft den Rücken.
    »Pssst«, sagte er immer wieder, »alles ist gut.«
    Er wollte mich trösten, doch ich wusste: Gar nichts war gut. Und würde es auch so schnell nicht wieder werden.
    Ich riss mich zusammen, wischte mir die Tränen aus den Augen und ging schnurstracks in mein Zelt. In der Hoffnung, die Rufbereitschaft möge mich für heute in Ruhe lassen, sank ich seufzend in voller Montur auf mein Bett.
    In unserem Zehnmannzelt gab es ein weiteres ungeschriebenes Gesetz, das ich an jenem Abend gerne in Anspruch nahm. Es lautete: Wenn man nicht reden wollte, durfte einen niemand dazu nötigen.
    Seit jenem Sommer im Jahr 1999 verfolgen mich die Bilder des breiigen Menschenfleisches regelmäßig in meinen Träumen. Bis heute kann ich mir nicht verzeihen, dass ich den Eltern des Jungen keinen Trost hatte spenden können.

    Natürlich, nicht ich war diejenige, die einen Verlust zu beklagen hatte. Seltsam aber, dass es sich für mich noch heute so anfühlt …

    Ein anderes Mal, doch eine ähnliche Geschichte.
    Diesmal wurde ein schwer verletztes Mädchen auf die Intensivstation eingeliefert. Das Mädchen mit den auffällig dunklen Locken war ebenfalls ungefähr zehn, höchstens elf Jahre alt. Es war in der Innenstadt von Prizren in einen schrecklichen Verkehrsunfall geraten. Das Mädchen wies ein Polytrauma auf sowie mehrere Knochenbrüche und Quetschungen am gesamten Körper - es war mehr als ungewiss, ob es den Abend überleben würde.
    Ich war mit dem Fall nicht befasst, da kam Hauptfeldwebel Michael Kuhrau eines Tages in der »Bronx« auf mich zu. Ich saß nach dem Mittagessen im Schatten, was selten genug vorkam. Ausführlich berichtete mir der Hauptfeldwebel von dem tapferen Kind, das ums Überleben kämpfte.
    »Die Kleine hat bei dem Autounfall Eltern und Geschwister verloren.« Mit diesen Worten beendete er seinen Bericht.
    »Das ist ja furchtbar«, sagte ich. »Soll ich mal nach ihr sehen, mit ihr reden?«
    »Darum wollte ich dich bitten«, sagte er und bat mich, möglichst bald die Intensivstation aufzusuchen.
    Die Mitarbeiter der Station machten sich große Sorgen um das Mädchen, das sich weder verständigen noch begreifen konnte, wo es war. Alle Beteiligten waren sich einig, dass dieses Kind einen Ansprechpartner brauchte, zu dem es Vertrauen fassen konnte. Die Wahl fiel auf mich, weil ich die Einzige im Feldlazarett war, die Kroatisch sprach.
    Noch am selben Abend fand ich mich nach meinem Dienst auf der Intensivstation ein, um mehrere Stunden am Bett des Mädchens
zu verbringen. So leise wie möglich schlich ich mich zu ihr, um den Patienten im Nachbarbett nicht zu stören, obwohl der Mann, der multiple Verbrennungen erlitten hatte, intubiert und beatmet vor sich hin vegetierte. Als ich das Mädchen in dem riesig wirkenden Bett liegen sah, erschrak ich, denn kein einziger Knochen ihrer Extremitäten war mehr intakt.
    Die Kleine konnte mich gar nicht verstehen, da die Kinder im Kosovo in ihren Schulen kein Serbokroatisch mehr lernten, das war mir ziemlich schnell bewusst. Dennoch nahm ich mir die Zeit, mich neben sie zu setzen, sanft auf sie einzureden und sie zu streicheln.
    Dass meine Kameraden dem Mädchen gegenüber zu kaum einer Geste der Zuneigung kamen, war beinahe verständlich. Sie standen wahnsinnig unter Zeitdruck, mussten täglich Unmengen an Menschen versorgen. Es wäre auf Kosten anderer Patienten gegangen, wenn sie sich mehr um das Mädchen gekümmert, sich besonders viel Zeit für dessen Belange genommen hätten - und das war nicht zu verantworten.
    Am ganzen Körper in Verbände und Mull gewickelt, lag die Kleine vor mir und schien tief und fest zu schlafen. Dass ihre komplette Familie bei dem Unfall das Leben verloren hatte, wusste sie noch nicht.
    Ich blieb lange am Krankenbett sitzen. Erst nachdem mir die Augen mehrmals zugefallen waren, ging ich zurück in mein Zelt, um dort vor Erschöpfung sofort in einen traumlosen Schlaf zu fallen.
    Als das Mädchen zu sich kam, war ihm die Angst vor der ungewohnten Umgebung und den fremden Menschen, die eine andere Sprache sprachen, deutlich anzumerken.
    Am Anfang schien es, als wolle sie mich gar nicht registrieren. Zwar verfolgte sie mit den Augen meinen Weg von der Zimmertür zu ihrem Bett ganz genau. Kaum saß ich jedoch neben ihr,
begann sie zur Decke zu starren - bis ich mich irgendwann von meinem Stuhl erhob

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