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Mit der Hoelle haette ich leben koennen

Titel: Mit der Hoelle haette ich leben koennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Matijevic
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mein eigenes Leben bei mehr als einer Gelegenheit bedenkenlos anvertraut. Von ihrer Professionalität war ich jederzeit überzeugt - und ich war überzeugt, Gutes zu tun.
    Noch nie im Leben hatte ich so danebengelegen.
    Ahnungslos gingen wir, der tapfere Ivica und ich, auf die Männer zu. Ivicas kleine Hand, die schwer in der meinen lastete, zitterte spürbar.
    Da kam ein Militärpolizist zu mir und forderte: »Fragen Sie den Kleinen, wer ihm all die schrecklichen Dinge angetan hat.«
    Ich übersetzte seine Worte und sah, wie Ivica all seinen Mut zusammennahm. Dann streckte der Junge den linken Arm aus und deutete auf einen der Männer.
    Jetzt wird alles gut, dachte ich erleichtert und atmete auf.
    Doch in derselben Sekunde, in der Ivica mit seinem spindeldürren Ärmchen auf den Mann zeigte, griff dieser nach hinten und zog aus seinem Hosenbund einen kleinen Revolver. Er zielte auf den Jungen - und drückte ab.
    Ein Schuss.
    Das Gesicht des kleinen Ivica explodierte.
    Der Jungenkörper sank zu Boden.
    Kein einziger Ton entwich meiner Kehle, es wurde dunkel um mich. Weder die Anwesenheit meiner Kameraden noch die unmittelbare Gefahr, in der ich mich befand - immerhin stand der Täter noch immer mit gezogener Waffe vor mir - interessierten mich in dem Augenblick. Für mich gab es nur noch Ivica. Und mich, mit meinem zum Himmel schreienden Versagen.

    Panisch suchte ich in dem komplett zerstörten Kinderantlitz nach den Überresten der Nase, um den Jungen beatmen zu können. Ich fand sie und strengte mich an, doch wollte es mir nicht gelingen, die kleine Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Die Luft entwich immer wieder aus einer Öffnung, die mal das Kinn gewesen sein musste.
    Aus Sekunden wurden Ewigkeiten, ich machte beharrlich und wie von Sinnen weiter, bis mich jemand am Arm packte und wegzog. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, so dass man mich zu Boden drücken musste.
    Ab da weiß ich nichts mehr. Ich vermute, dass man mir ein starkes Beruhigungsmittel verabreichte.
    Meine Erinnerung setzt erst einen Tag später wieder ein, weshalb ich weder weiß, was aus dem Mann, noch - und das ist weitaus schlimmer - was aus Ivicas Leichnam geworden ist.
    Der Vorfall wurde im Camp nicht groß diskutiert, vermutlich aus Rücksicht auf meine Situation. Ich war heilfroh, mich nicht erklären zu müssen. In der ganzen Zeit meines Einsatzes im Kosovo erzählte ich niemandem von Ivicas Tod, nicht mal Johanna. Es war mir nicht möglich, das Grauen, das erst über Ivica und dann - in gänzlich anderer Weise - auch über mich hereingebrochen war, in Worte zu fassen.
    Lange Zeit habe ich versucht nachzuvollziehen, was genau nach dem Attentat auf Ivica geschehen sein könnte, was mir dort zugestoßen ist, was zu diesem unglaublichen Filmriss geführt haben mag. Ich kann mich nicht entsinnen, wie ich zurück ins Camp gekommen bin, und ich weiß weder, wie ich den restlichen Tag, noch, wie ich die Nacht verbracht habe. Jede einzelne Minute, die mir aus dieser Zeit fehlt, hat sich im Laufe der Jahre zu einer nicht endenden Spirale der Schuld potenziert, einer Schuld, die mir Tag für Tag den Atem nimmt.
    Es wundert mich, doch so etwas wie Hass auf den Täter verspüre
ich selbst heute nicht. Das einzig vorhandene Gefühl ist Schuld. Dazu ein grenzenloser Zorn auf mich. Weil ich so lange auf Ivica eingeredet und seine erste Reaktion, die Gegenüberstellung unbedingt zu vermeiden, nicht ernst genug genommen habe. Nicht einmal auf den verantwortlichen Militärpolizisten, der für die Entwaffnung des Mannes zuständig gewesen wäre, bin ich wütend. Einzig mir selbst kann ich nicht verzeihen, dass der Täter Ivica getroffen hat und nicht mich, die den armen Jungen ins Freie zerrte.
    Ich hätte sterben müssen - für mein Unvermögen.
    Mich hätte die Kugel treffen sollen.
    Meine Schuld.
    Es ist eine Sache, zu wissen, dass man nicht wirklich für den Lauf der Dinge verantwortlich ist. Auf Verstandesebene weiß ich, dass an jenem Tag in jenem Dorf wahnsinnig viele Faktoren zusammengekommen sind, die, sagen wir mal, recht ungünstig waren. Doch aus meinem Bauch, meinem Herzen, aus meiner Seele dringen zu mir Nacht für Nacht Rufe: Warum, um Gottes willen! Warum habe ich es nicht besser gewusst! Warum habe ich nicht rechtzeitig gehandelt! Warum habe ich die Gefahr nicht früher bemerkt!
    Es vergingen mehrere Tage, bis ich wieder in der Lage war, auf menschliche Ansprache zu reagieren. Zwar absolvierte ich mechanisch meinen Dienst auf der

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