Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
Mann am Parque Chacabuco aussteigt, ohne eines verkauft zu haben. Außer uns ist niemand mehr im Bus, der seit der Plaza Roma mitfährt. Der Park ist belebt wie alle Grünflächen in der Stadt, vor allem sonntags. Früher war auf diesem Gelände der Schlachthof der Stadt, bevor er weiter westlich nach Liniers verlegt wurde. Das Viertel hat auch schon einmal bessere Zeiten gesehen, der Mittelstand ist durch die Krise verarmt, eine Besserung nicht in Sicht. Im Gegensatz zum Viertel um die Floridastraße in der City, wo die Bankfilialen mit Wellblechzäunen vor Demonstranten geschützt sind, die wie wütende Insektenschwärme alltäglich diese Orte heimsuchen, um mit Sprühdosen, Werkzeugen und Geräuschinstrumenten an die Tage im Jahr 2001 zu erinnern, an dem die Banken mit ihrer Kapitalflucht unzählige Existenzen zerstörten, sind die Filialen in den Vierteln Parque Chacabuco, Flores oder Mataderos gänzlich unbehelligt, obwohl es Filialen derselben Bank sind. Man fragt sich, wer ihnen noch sein Geld anvertraut.
    Immer wieder unterquert der Bus die Betonbrücken der Autopista, unter der die verlorenen Existenzen der Stadt ihre Schlafsäcke ausgerollt haben oder Wertstoffsammler ihr Gut von Hunden bewachen lassen. Einmal fällt unter einer der Brücken ein Rentnerclub ins Auge, der so gar nicht in die Gegend zu passen scheint. Mittwochs wird zum Tango an diesen traurigen Ort geladen, freitags gibt es Folklore. Unter den Brücken sind auch häufig Straßensperren der Polizei aufgebaut. Sie haben die Fahrbahn mit orangefarbenen Hütchen verengt und halten Autos an, die ihnen verdächtig vorkommen. Wonach sie suchen, ist vom Bus aus nicht zu erkennen, sie sehen eher aus wie Wegelagerer.
    Nach einer langen Strecke auf der Eva-Perón-Straße fährt der Bus durch unzählbar viele Straßen mit einstöckiger Bebauung. Manche offene Tür gibt den Blick frei auf kleine, bewachsene Innenhöfe. Viele der Häuser stehen zum Verkauf, die Läden sind vergittert, ewig währende Baustellen überall. Mich faszinieren die Abfallkörbe auf den langen Stangen, die an der Straße stehen. Immer sehen sie anders aus. Am Morgen legen die Hausangestellten den Müll darin ab, falls sich hier jemand noch Personal leisten kann.
    »Die Straßen von Buenos Aires / sind längst mein Innerstes. / Nicht die gierigen Straßen, / Unbehaglich durch Gewühl und Mühsal, / sondern die lustlosen Straßen des Viertels, / durch Gewöhnung fast unsichtbar, / gemildert von Zwielicht und Sonnenuntergang, / und jene weiter draußen, fern barmherziger Bäume …«, schrieb Jorge Luis Borges in seinem Gedicht Die Straßen über seine Stadt. Als ich seine Werke in den achtziger Jahren in Ostberlin las, war Buenos Aires ein imaginärer Ort, den ich nicht glaubte, jemals in meinem Leben besuchen zu können. Hier, in der realen Stadt, erzählt mir der Dichter auf einmal ganz andere Geschichten.
    Die Straßen dösen in der Frühlingssonne. Lebendig wird es erst wieder, als der Bus ganz im Westen kurz vor der Avenida General Paz wieder auf die Rivadavia trifft. In der Gegend um den Bahnhof Liniers wimmelt es vor Leuten. Die Straße ist dreckig und laut. Hier kommen die Menschen aus dem Umland an, um ihr Glück in der Stadt zu suchen, oder machen letzte Einkäufe, bevor sie in die Provinz zurückreisen. Die 4 unterquert die Avenida General Paz, die seit 1941 die Stadtgrenze bildet. Alejandra fragt mich, ob ich meinen Pass dabeihätte. Es ist ein beliebter Witz der Porteños, denn an dieser Stelle verlassen wir den Planeten Buenos Aires und wenden uns Lomas del Mirador zu. Im Bus sind jetzt nur noch Buenerences, wie die Leute aus dem Umland im Gegensatz zu den Porteños genannt werden.
    Als wir an der Avenida Mosconi zum Bushof abbiegen, haben wir 25,5 Kilometer hinter uns gebracht und sind neunzig Minuten gefahren. Sonntags, wenn die Straßen frei sind, ist man eine halbe Stunde schneller.
    Auf dem Bushof herrscht geschäftiges Treiben. Die Dispatcherin möchte über ihren Betrieb nicht reden, gerade hat der Besitzer gewechselt, und sie weiß nicht, ob sie befugt ist, uns Auskunft zu geben. Informationen aber kann man auch auf der Website www.loscolectivos.com.ar finden. Die Linie 4 hat im Laufe ihrer Geschichte viele Veränderungen erlebt. 1933 wurde sie als Buslinie 70 gegründet, schon damals fuhr sie südlich von Ost nach West durch die Hauptstadt. Endhaltestelle war der Bahnhof Liniers, seit 1934 heißt sie Linie 4, seit 1969 beginnt sie an der Hauptpost, erst seit

Weitere Kostenlose Bücher