Mit der Zeit
aus.« Er schlug die Akte auf und bezog sich nun ständig darauf. »Haben Sie schon mal von einem Terroristen aus dem neunzehnten Jahrhundert namens Netschajew gehört? Sergei Gennadijewitsch Netschajew?«
»Ich habe von einem Anarchisten dieses Namens gehört.«
»Wahrscheinlich haben Sie in dieser Eigenschaft von ihm gehört, weil er der Anarchist war, der die Anarchie in Verruf gebracht hat. Ich weiß, es ist nicht falsch, wenn man sagt, der klassische Anarchismus habe an die Möglichkeit geglaubt, durch die Abschaffung einer zentralisierten Regierung die Gesellschaft zum Besseren verändern zu können, aber er war auch der Ansicht, der Mensch sei im wesentlichen ein vernunftbestimmtes Wesen, das mit Mitteln der gewaltlosen Überzeugungskraft verbessert werden könne. Die frühen Anarchisten waren Spinner, aber es waren idealistische Spinner. Netschajew war es, der der Bewegung das Etikett des Terrorismus anhängte und den Karikaturisten des neunzehnten Jahrhunderts zu jenem Symbol des Anarchismus verhalf, das sich bis in unsere Zeit gehalten hat – die runde, schwarze, düster aussehende Bombe, an der eine brennende Zündschnur hängt. Was den Mann selber betrifft, so war er sowohl ein Hochstapler als auch ein Fanatiker, ein Dieb, ein Lügner und ein Mörder. Heutzutage würden wir ihn, das wage ich zu sagen, einen kriminellen Psychopathen nennen.« Er warf einen Blick auf seine Akte. »Es ist jedoch seine Beziehung zu Michael Bakunin, an die ich Sie jetzt erinnern muß. Da Sie von Netschajew gehört haben, brauche ich Ihnen wohl nichts über Bakunin erzählen, wie?«
»Ich glaube, ich sollte mir lieber anhören, was in Ihrer Zusammenfassung da steht.«
Er reagierte auf meine Vorsicht mit einem anerkennenden Lächeln und begann dann, vom obersten Blatt in der Akte den Text wörtlich abzulesen.
»Ab achtzehnfünfundsechzig, nach Proudhons Tod, war Bakunin der herausragende anarchistische Denker und Autor. Wie Herzen vor ihm entschied auch er sich für Genf als seinen ersten Wohnort im Exil. Anders als Herzen war er jedoch nicht nur ein Denker, sondern auch ein Aktivist, ein Kämpfer mit dem Hang zum Romantiker. Er war beispielsweise mit Garibaldi befreundet. In der Folge nun sammelten sich um ihn nicht nur vertriebene russische Intellektuelle, sondern auch Abenteurer, die sich für Intellektuelle hielten. Die Urteile, die er fällte, waren oft vorschnell. Man kann ihm das wirklich nicht verargen. In die Schweiz kam damals ein ständiger Strom von Leuten, die vor zaristischen Gefängnissen und der zaristischen Polizei geflohen waren. Achtzehnneunundsechzig erschien Netschajew.«
McGuire schob seinen Schnabelmund vor, um sein Mißfallen auszudrücken, und gereizt schlug er mit der flachen Hand auf die Akte, während er aufblickte.
»Sie können sich vielleicht vorstellen, wie das war, was, Mr. Halliday? Netschajew muß der Archetyp des grüblerischen Wunderknaben und Revolutionärs gewesen sein. Mit seinen hochstaplerischen Geschichten von geheimen Rebellenorganisationen in der alten Heimat, seinem Fanatismus und seiner geschmacklosen Heldenverehrung hatte er den großen Mann bald in der Tasche. Noch in Rußland hatte der Wunderknabe an der Niederschrift eines furchterregenden Revolutionären Katechismus mitgearbeitet, den Bakunin bewunderte, und nun arbeiteten sie zusammen an einer Reihe von Manifesten, die praktisch Netschajews eigenes Programm von einer Revolution durch Terror enthielten. Netschajew, müssen Sie wissen, glaubte an die Gewalt um ihrer selbst willen.«
»Und der große Mann machte das mit?«
»Bis er sah, wohin die Manifeste führten, und zur Besinnung kam, ja. Dann versuchte er, energisch zu bremsen. Er sagte, die Leidenschaft müsse sich mit der Vernunft verbünden, und klagte, Netschajew sei wie ein Mann in einem Traum. Aber was für ein Traum! Es war Netschajew, der die moderne Terroristendoktrin von der ›Propaganda der Tat ‹ erfand. Nicht daß ein Einschreiten Bakunins zu der Zeit noch irgend etwas hätte ändern können. Es war längst zu spät. In einer solchen Bewegung wird es immer die paar Wahnsinnigen geben, die auf Gewalttaten gewartet, ja sich danach gesehnt haben. Sogar ohne es zu wissen. Ganz gleich, was irgend jemand sagt, die hoffnungslosen Fälle werden immer reagieren. Michael Bakunin und Professor Marcuse mögen sich etwas dabei gedacht haben, aber es war für sie beide zu spät. Es ist immer dasselbe. Wenn ein derartiger Schaden erst angerichtet ist, läßt er
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