Mit der Zeit
dann wolle er mir nicht länger meine Zeit stehlen. Nett, daß Sie vorbeigeschaut haben.
Doch Mr. McGuire kapitulierte. Einen Moment lang starrte er mich an, dann nickte er. »Sie haben recht«, sagte er. »Ich habe mich da wohl mitreißen lassen. Kommen wir zurück zu Netschajew.«
»Stammt die besagte Abhandlung von ihm?«
»Darauf komme ich noch zu sprechen. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß Frauen so sicher auf ihn ansprachen wie auf Gift. Vor allem eine seiner Affären hat Berühmtheit erlangt. Vielleicht haben Sie davon gehört. Nein? Nun, Alexander Herzen, Doyen der im Exil lebenden russischen Intellektuellen, hatte eine Tochter. Nach seinem Tod in Paris kehrte sie nach Genf zurück, um von dem ererbten kleinen Vermögen zu leben. Netschajew, der ständig pleite war, versuchte an das Geld heranzukommen, indem er sie verführte. Er scheiterte zwar, aber es war eine so häßliche Geschichte, daß sie nicht vergessen wurde. Vergessen wurde dagegen – vor allem durch Vertuschungsmanöver der Familie –, daß er etwa zur gleichen Zeit eine weitere Affäre hatte, und zwar mit der Tochter eines italienischen Arztes namens Luccio. Dr. Luccio gehörte Garibaldis Freiwilligenkorps an. Er hatte an der Seite des Befreiers in Italien gekämpft und behandelte ihn zwischen den Feldzügen. Als sich Garibaldi auf der Insel Caprera niederließ, zogen auch die Luccios dorthin. Und nun schlägt das Schicksal zu. 1870 geht Garibaldi in die Schweiz, um am Friedens- und Freiheitskongreß in Bern teilzunehmen. Dr. Luccio nimmt seine Familie mit. Netschajew betritt die Bühne. Er besucht den Kongreß, und dort lernt er die Tochter des Arztes kennen und macht ihr den Hof. Als Garibaldi plötzlich mit seinen Freiwilligen aufbricht, um gegen die Franzosen zu kämpfen, zieht der Doktor natürlich mit. Seine Frau und Tochter bleiben – unvernünftigerweise vielleicht – noch eine Weile in Bern, bevor sie zu ihrem Haus auf Caprera zurückkehren. Das ist, wie Sie vielleicht wissen, eine kleine, abgeschiedene Insel vor der Nordküste Sardiniens. Jedenfalls ist das der Ort, wo achtzehneinundsiebzig Netschajews unehelicher Sohn zur Welt kommt.« Er zog die buschigen Augenbrauen hoch und sah mich an. »Wo war Netschajew? Das läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zweifellos sind Briefe ausgetauscht worden, aber sie sind verlorengegangen. Sicher ist jedenfalls, daß im Laufe des nächsten Jahres, zweiundsiebzig, Netschajew von den Schweizern an Rußland ausgeliefert wurde. Die Anklage lautete auf kriminelle und nicht auf politische Straftaten. Er wurde in Rußland wegen des Mordes an einem Studenten gesucht. Es kam zur Verhandlung und Verurteilung wegen des Mordes, und später starb er in einem Kerker der Festung St. Peter und St. Paul. Als sein Vermächtnis hinterließ er der Nachwelt die Grundsätze des modernen Terrorismus, einen unehelichen Sohn und eine Darstellung seines Lebens und seiner Gedanken – offenbar in Genf geschrieben –, die er dem Mädchen zur Aufbewahrung gegeben oder geschickt hatte. Diese Abhandlung ist erhalten geblieben und befindet sich im Besitz seines Urenkels. Eine Kopie davon liegt bei Pacioli.«
»In welcher Sprache ist sie verfaßt? Russisch?«
»Überwiegend in einer Mischung aus Russisch und Französisch. So haben wohl die meisten in diesem Kreis geschrieben. Der französische Text ist zum Teil in einer Kurzschrift aus dem neunzehnten Jahrhundert geschrieben. Auch ein wenig Italienisch ist dabei. Abschließend widmet er das Ganze dem Mädchen in Erwartung einer Hochzeit auf Caprera, die nie stattgefunden haben kann.«
»Der Urenkel besitzt das Manuskript?«
»Ja, er hat es geerbt. Bis es in seine Hände kam, wußte tatsächlich niemand genau, was es war, denn niemand konnte es richtig lesen. Erhalten geblieben ist es wahrscheinlich als eines dieser Familienerbstücke ohne eigentlichen Wert, als eine Art von Andenken, an das sich romantische Assoziationen knüpfen. In diesem Fall ging die Wertschätzung vielleicht darauf zurück, daß es dem Fremden gehört hatte, der mutmaßlich die Urgroßmutter in der Schweiz geheiratet hatte und dann von der bösen zaristischen Geheimpolizei nach Rußland entführt worden war.«
»Versteht der Urenkel Russisch?«
»Genug, soviel ich weiß, um die russischen Abschnitte in dem Text herauszubekommen und die Bedeutung des Ganzen zu erfassen. Auch er heißt Luccio, und er ist es, der vorgeschlagen hat, welche Form das Buch annehmen soll. Ich
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