Mit dir an meiner Seite
müssen. Er klang so hilflos, so jung ... so erschüttert. Er konnte unmöglich verstehen, was passierte, und Ronnie wusste, dass er diesen entsetzlichen Tag nie vergessen würde.
»Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«
Die Frage galt ihr. Mit tränennassen Augen blickte sie auf und sah Pastor Harris vor sich stehen.
Sagen konnte sie nichts, aber sie schaffte es, den Kopf zu schütteln. Der Pfarrer betrachtete sie mit freundlicher Miene, aber an seinen hochgezogenen Schultern und an der Art, wie er den Stock umklammerte, erkannte Ronnie, dass auch er unter großem innerem Druck stand.
»Ich fühle mit dir«, murmelte er. Seine Stimme klang müde. »Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss. Dein Vater ist ein ganz besonderer Mann.«
Sie nickte. »Woher wussten Sie, dass er hier liegt? Hat er Sie angerufen?«
»Nein«, antwortete er. »Eine der Krankenschwestern hat mich informiert. Ich komme zwei-, dreimal in der Woche hierher, und als dein Vater eingeliefert wurde, haben sie sich gleich gedacht, dass ich gern Bescheid wüsste. Die Leute hier wissen, dass er für mich wie ein Sohn ist.«
»Werden Sie mit ihm sprechen?«
Pastor Harris schaute auf die geschlossene Tür. »Nur, wenn er mich sehen will.« An seinem gequälten Gesichtsausdruck konnte Ronnie ablesen, dass auch er Jonah weinen hörte. »Aber das will er bestimmt, nachdem er mit euch beiden gesprochen hat. Du ahnst gar nicht, wie sehr er sich davor gefürchtet hat.«
»Sie wissen das?«
»Ja, natürlich. Er liebt euch beide mehr als sein Leben, und er grämte sich so sehr, dass er euch Schmerz würde zufügen müssen. Ihm war bewusst, dass der Augenblick kommen würde, aber ich bin mir sicher, er wollte auf keinen Fall, dass ihr es auf diese Weise erfahrt.«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Man kann nichts mehr ändern.«
»Aber gleichzeitig hat sich alles geändert«, erwiderte der Pastor.
»Weil ich Bescheid weiß?«
»Nein. Weil ihr mit ihm zusammen wart. Bevor ihr gekommen seid, war er sehr aufgeregt. Nicht wegen seiner Krankheit, sondern weil er euch bei sich haben wollte und sich sehnlichst gewünscht hat, dass alles gut geht. Ich glaube, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er euch vermisst hat und wie gern er euch mag. Immer, wenn ich ihm begegnet bin, hat er gesagt: >Noch neunzehn Tage< oder >Noch zwölf Tage<. Und an dem Tag, an dem ihr angekommen seid, hat er stundenlang das Haus geputzt und die Betten frisch bezogen. Ich weiß, der Bungalow ist nicht luxuriös, aber wenn du ihn vorher gesehen hättest, würdest du staunen, was dein Dad daraus gemacht hat. Er wollte, dass ihr einen unvergesslichen Sommer erlebt, und er wollte dabei sein. Wie alle Eltern wünscht er sich vor allem eins - dass ihr glücklich seid. Dass ihr gut durchs Leben kommt, dass ihr vernünftige Entscheidungen trefft. Das war es, was er in diesem Sommer gebraucht hat, und ihr habt es ihm geschenkt.«
Ronnie musterte den Pastor mit zusammengekniffenen Augen. »Aber ich habe nicht immer vernünftige Entscheidungen getroffen.«
Jetzt lächelte er. »Das zeigt doch nur, dass du ein Mensch bist. Dein Vater hat nichts Perfektes erwartet. Aber ich weiß, wie stolz er auf dich ist. Auf die junge Frau, zu der du herangewachsen bist. Erst vor ein paar Tagen hat er mit mir über dich gesprochen. Du hättest ihn sehen sollen. Er war so ... stolz, so glücklich! In meinem Abendgebet habe ich Gott dafür gedankt. Weil dein Vater wirklich zu kämpfen hatte, als er wieder hierhergezogen ist. Ich wusste nicht, ob er je wieder glücklich sein kann. Und jetzt ist er es, trotz allem, was geschehen ist.«
Ronnie schnürte es die Kehle zu. »Was kann ich für ihn tun?«
»Ich glaube nicht, dass du viel tun kannst.« »Aber ich habe solche Angst! Und mein Vater ...« »Ich weiß«, sagte der Pastor ruhig. »Obwohl ihr zwei ihn sehr glücklich gemacht habt, hat auch er große Angst.«
Zu Hause trat Ronnie auf die hintere Veranda hinaus. Die Wellen rauschten unbeirrt, in ihrem ewigen Rhythmus, die Sterne funkelten wie helle kleine Stecknadelköpfe. Aber nichts war mehr wie vorher. Will unterhielt sich mit Jonah in dem Zimmer, das sie mit ihrem Bruder teilte. Es waren also drei Menschen im Haus, genau wie sonst auch. Und trotzdem spürte man die Leere.
Pastor Harris war bei ihrem Vater. Er hatte vor, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen, damit Ronnie mit Jonah nach Hause gehen konnte. Dennoch plagte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht bei Dad geblieben war.
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