Mit dir an meiner Seite
Stuhl.
»Warte mal noch einen Moment!«, rief sie Jonah zu.
Endlich erhob sich Will. Man sah ihm an, dass er sehr beunruhigt war. Er weiß Bescheid, dachte Ronnie. Aus irgendeinem Grund weiß er alles.
»Kannst du auf uns warten?«, fragte sie ihn. »Ich nehme an, du bist -«
»Natürlich warte ich auf euch«, erwiderte er ruhig. »Ich bin hier, solange du mich brauchst.«
Ach, wie erleichtert sie sich fühlte! Sie lächelte ihm dankbar zu. Sagen konnte sie nichts. Mit schnellen Schritten folgte sie Jonah. Gemeinsam durchquerten sie die leere Eingangshalle und gingen zurück zur Notaufnahme.
Noch nie war jemand, den sie näher kannte, gestorben. Die Eltern ihres Vaters lebten nicht mehr. Sie konnte sich an die Trauerfeiern erinnern, aber im Grunde hatte sie kein Verhältnis zu ihnen gehabt. Die beiden waren nicht oft zu Besuch gekommen. Sie waren ihr immer fremd geblieben, und nach ihrem Tod hatten sie ihr nicht gefehlt.
Am ehesten hatte sie Amy Childress vermisst, ihre Geschichtslehrerin in der siebten Klasse. Nachdem Ronnie ein Jahr bei ihr Unterricht gehabt hatte, war sie im Sommer ums Leben gekommen. Kayla hatte ihr davon erzählt. Doch Ronnie war eher schockiert als traurig gewesen -wahrscheinlich, weil Amy so jung war, noch keine dreißig, als sie starb. Sie hatte erst ein paar Jahre als Lehrerin gearbeitet. Alles war völlig unwirklich.
Als Ronnie nach den großen Ferien wieder in die Schule musste, hatte sie keine Vorstellung davon, was sie dort erwartete. Wie reagierte man auf so eine Tragödie? Was dachten die anderen Lehrer? Sie wanderte am ersten Tag durch die Korridore und suchte überall nach Hinweisen, dass sich etwas verändert hatte. Aber abgesehen von einem kleinen Zettel neben dem Rektorat entdeckte sie nichts Ungewöhnliches. Die Lehrer unterrichteten wie immer, sie standen im Lehrerzimmer herum und plauderten. Mrs Taylor und Mr Burns - zwei Kollegen, mit denen Ms Childress oft zu Mittag gegessen hatte - gingen unbeschwert lachend den Flur entlang.
Das hatte sie damals sehr gestört. Sicher, der Unfall war in den Sommerferien passiert, und sie hatten getrauert, aber als Ronnie Ms Childress' Klassenzimmer betrat und sah, dass dort jetzt Physik unterrichtet wurde, stieg die Wut in ihr hoch - nicht nur, weil ihre Lehrerin nicht mehr da war, sondern auch, weil die Erinnerung an sie so rasch verblasste.
Sie wollte mit allen Mitteln verhindern, dass es ihrem Vater genauso erging. Er durfte nicht nach ein paar Wochen in Vergessenheit geraten - er war ein guter Mensch, ein guter Vater, und er hatte es verdient, dass man ihn im Gedächtnis behielt.
Bei ihren Grübeleien wurde ihr noch etwas anderes klar: Sie hatte Dad gar nicht richtig gekannt, als er noch gesund war. Ihre gemeinsame Zeit lag schon über drei Jahre zurück - sie war damals erst in der neunten Klasse. Jetzt war sie erwachsen, juristisch gesehen sowieso, sie durfte wählen, sie konnte zum Militär gehen. Und den ganzen Sommer über hatte er sein Geheimnis für sich behalten. Wie wäre er gewesen, wenn er nicht gewusst hätte, was ihm bevorstand? Wer war er wirklich?
Sie hatte keinen Maßstab, mit dessen Hilfe sie das beurteilen konnte. Nur ihre Erinnerungen an die Zeit, als er ihr das Klavierspielen beibrachte. Ach, wie wenig sie über ihn wusste! Sie hatte keine Ahnung, welche Schriftsteller er gern las, was sein Lieblingstier war, ja, sie konnte noch nicht einmal sagen, welche Farbe er am liebsten mochte. Das war natürlich alles nicht so wichtig, aber der Gedanke, dass sie diese Dinge voraussichtlich nie erfahren würde, machte sie sehr traurig.
In dem Moment hörte sie Jonah laut schluchzen. Er hatte die Wahrheit erfahren. Und immer wieder rief er entsetzt: »Nein, nein, nein!« Dann ertönte die besänftigende Stimme ihres Vaters. Ronnie lehnte sich an die Wand. Ihr Herz war so schwer ...
Was konnte sie tun, um aus diesem Albtraum herauszukommen? Am liebsten hätte sie die Uhr zurückgedreht zu dem Moment, als die Schildkröten schlüpften und die Welt noch in Ordnung war. Sie wollte neben dem jungen Mann stehen, den sie liebte, umgeben von ihrer glücklichen Familie. Auf einmal musste sie daran denken, wie Megan gestrahlt hatte, als sie bei der Hochzeit mit ihrem Vater tanzte. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, weil ihr wieder bewusst wurde, dass sie und ihr Dad diesen einmaligen Augenblick nicht miteinander teilen würden.
Sie schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, um Jonahs Weinen nicht hören zu
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