Mit dir an meiner Seite
schaffte es kein einziges Mal. Steve saß stattdessen oft auf dem Beifahrersitz neben Pastor Harris, der ihn nach Raleigh oder Charlotte, nach Atlanta oder Washington, D.C., fuhr. Sie unterhielten sich stundenlang. Der Pastor war ein frommer Mann, und wenn er in ihren Gesprächen die Lehren Christi erwähnte, was er fast immer tat, klang das so normal, wie wenn jemand aus Chicago darüber sprach, dass sich die Clubs bei den Baseballmeisterschaften vergeblich anstrengten.
Pastor Harris war ein freundlicher Mensch, der immer viel zu tun hatte. Er nahm seinen Beruf ernst, und selbst an den meisten Abenden kümmerte er sich um seine Gemeinde. Er war im Krankenhaus oder in einem Bestattungsbüro oder bei irgendjemandem zu Hause. Viele Mitglieder betrachtete er als seine Freunde. Am Wochenende hielt er Trauungen und Taufen, mittwochabends traf sich der Kirchengemeinderat, und dienstags und donnerstags übte er mit dem Chor. Aber jeden Abend, bei jedem Wetter, nahm er sich eine Stunde frei und ging allein am Strand entlang. Er wirkte absolut gelassen, wenn er von diesen Spaziergängen zurückkam. Steve hatte immer angenommen, dass sich der Pastor auf diese Weise einfach die Ruhe und Ausgeglichenheit verschaffte, die er für seinen Beruf brauchte - bis er ihn eines Tages fragte.
»Nein«, antwortete Pastor Harris. »Ich gehe nicht am Strand spazieren, um allein zu sein. Weil das gar nicht möglich ist. Ich rede mit Gott. Er begleitet mich.«
»Heißt das, Sie beten?«
»Nein. Das heißt: Ich rede mit Ihm. Vergiss nie, dass Gott dein Freund ist. Und wie alle deine Freunde möchte er gern wissen, was in deinem Leben so los ist. Gutes oder Schlechtes, ob dich Sorgen quälen oder ob du wütend bist, ganz egal. Selbst wenn du voller Zweifel bist und dich fragst, warum so viele schreckliche Dinge passieren. Deshalb rede ich mit ihm.«
»Was erzählen Sie ihm?«
»Was erzählst du deinen Freunden?«
»Ich habe keine Freunde.« Steve lächelte verlegen. »Jedenfalls keine, mit denen ich sprechen kann.«
Pastor Harris legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast mich.« Als Steve schwieg, drückte der Pastor ihn ein bisschen. »Wir reden so miteinander wie du und ich.«
»Und - antwortet er?« Steve war skeptisch.
»Immer.«
»Sie können ihn hören?«
»Ja«, antwortete der Pastor. »Aber nicht mit den Ohren.« Er legte sich die Hand auf die Brust. »Hier höre ich seine Antworten. Hier fühle ich seine Gegenwart.«
Steve gab Jonah einen Gutenachtkuss auf die Wange und deckte ihn zu. Bevor er ging, blieb er noch einen Moment in der Tür stehen und betrachtete seine Tochter. Zu seiner Verwunderung hatte Ronnie schon geschlafen, als er und Jonah ins Zimmer kamen, und man konnte ihr nicht mehr ansehen, dass etwas sie gequält hatte. Ihr Gesicht war entspannt, ihre welligen Haare breiteten sich auf dem Kopfkissen aus, und beide Arme lagen dicht am Oberkörper. Einen Moment lang überlegte Steve, ob er ihr auch einen Kuss geben sollte, ließ es dann aber lieber bleiben, um sie nicht im Schlaf zu stören - wenn die Träume wie Schmelzwasser zu den Orten strömten, wo sie hin gehörten.
Aber er brachte es noch nicht über sich, zu gehen. Es hatte etwas so Beruhigendes, die beiden Kinder schlafen zu sehen! Jonah drehte sich mit einem kleinen Seufzer auf die Seite, weg vom Flurlicht. Wie lange war es her, fragte sich Steve, seit er Ronnie abends einen Kuss gegeben hatte? In dem Jahr vor seiner Trennung von Kim war Ronnie gerade in das Alter gekommen, in dem Kindern solche Rituale peinlich werden. Er erinnerte sich noch genau an den Abend, als das zum ersten Mal richtig klar wurde. Er wollte ihr Gute Nacht sagen und zupfte die Decke zu-recht, aber Ronnie erklärte: »Du brauchst das nicht zu machen. Ich kann es allein.« Kim hatte ihn mit schmerzerfülltem Gesicht angeschaut. Ihr war natürlich bewusst gewesen, dass Ronnie eines Tages erwachsen sein würde, aber trotzdem tat es ihr im Herzen weh, zu sehen, dass die Kindheit zu Ende ging.
Steve reagierte anders als Kim. Ihn machte es nicht traurig, dass Ronnie bald kein Kind mehr sein würde. Er dachte an sich selbst in dem Alter. Damals hatte er angefangen, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und sich seine persönlichen Gedanken über die Welt zu machen. Die Jahre, in denen er unterrichtete, bestärkten immer wieder seine Ansicht, dass Veränderungen nicht nur unvermeidlich waren, sondern meistens auch ihre guten Seiten hatten. Es gab Zeiten, da saß er mit einem
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