Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
Traueressens hatten alle Gäste so getan, als sei nichts geschehen. Selbst Belindas Familie hatte ihr höflich und ohne die Spur von Falschheit im Blick ihr Beileid ausgesprochen. Jetzt tuschelten sie bestimmt alle hinter ihrem Rücken über sie. »Die alte Schlampe tickt doch nicht mehr richtig, wenn du mich fragst.« »Stimmt, der kann nicht mal mehr ein anständiger Psychiater helfen. Die ist ja komplett durchgeknallt.«
Wie sollte sie das alles nur ertragen? Es war unfair – sie hatte vor gut 15 Jahren ihren Mann Carl begraben. Seither hatte sie niemanden an ihrer Seite, niemanden, der mit ihr litt. Von dem Augenblick an, da sie bei Carls Beerdigung die Kirche verlassen und ihre Söhne dabei erwischt hatte, wie sie sich prügelten, war ihr klar gewesen, dass sie nun mit allen elterlichen Problemen allein sein würde. Diese Aussicht hatte sich derart deprimierend und schwer auf ihre Seele gelegt, dass sie beinahe nicht rechtzeitig reagiert hätte. Aber dann hatte sich ihr Mutterinstinkt durchgesetzt, und sie hatte Andrews Faust gepackt, noch bevor er James vor dem Traueressen eine blutige Nase verpassen konnte.
*
»Andrew! Was zum Teufel machst du da?«
»Er erzählt gemeine Dinge über Dad. Sag ihm, er soll das zurücknehmen. Sag ihm, dass es nicht stimmt! Überhaupt nicht stimmt.«
»Gut. Aber zuerst beruhigt euch. Los jetzt! Wir gehen zu der Bank dort drüben und unterhalten uns. Wir müssen das regeln, bevor die anderen aus der Kirche kommen.«
»Aber du hättest ihn hören sollen, Mum. Du hättest hören sollen, wie er Dad genannt hat.«
»Stopp! Hört zu. Ich weiß, der heutige Tag ist schlimm für euch beide. Ihr habt euren Vater sehr gerngehabt … Ich übrigens auch. Er war ein wunderbarer Mann, und er wollte so gern mit euch fischen gehen.«
»Ach wirklich? Warum dann …«
»Ich bin noch nicht fertig, James Matthew McGavin. Wenn euer Vater es hätte ändern können, dann hätte er euch oder mich um keinen Preis der Welt allein gelassen. Da bin ich sicher. Trotzdem dürft ihr wütend sein. Und ihr dürft weinen … Es ist absolut keine Schande, beim Begräbnis des eigenen Vaters Tränen zu vergießen. Aber Prügeleien unter Geschwistern schicken sich nicht. Also haltet euch zurück. Nur dieses eine Mal! Bitte vertragt euch. Mir zuliebe, ja?«
*
Sie fuhr zusammen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte, und drehte sich um. Ihre Schwester Violet kam aus der Küche.
»Okay, die letzte Ladung läuft im Geschirrspüler.«
»Vi, ich hatte fast vergessen, dass du noch hier bist.« Evelyn war wie so oft überrascht, wenn sie in das Gesicht ihrer Schwester sah. Sie war ihr Ebenbild, nur eben sieben Jahre jünger und daher um sieben Jahre milder gestimmt. Die Ähnlichkeit war verblüffend, obwohl Violet ihr Haar lang und locker im Nacken zusammengebunden trug, was sie im Übrigen noch jünger wirken ließ.
Evelyn war froh, Gesellschaft zu haben. Sie musste ihre Gedanken auf andere Dinge konzentrieren, aufhören, sich Vorwürfe wegen des heutigen Tages zu machen.
»Das war vielleicht eine Szene, die du dir bei der Beerdigung geleistet hast!« Violets Stimme klang bemüht unbekümmert und unaufgeregt.
Da geht er hin, mein Wunsch nach Ablenkung.
»Hör mal, Vi! Das Letzte, was ich jetzt brauche, sind irgendwelche Schuldzuweisungen, okay?«
»Ev, ich hatte das zwar wirklich nicht vor, aber ich finde, wir müssen uns unterhalten. Ich weiß, wie traurig du bist. Und trotzdem … dein Verhalten war in den letzten Tagen ein bisschen … daneben.«
»Wie bitte? Ich habe mein Kind verloren, meinen Sohn, und du findest, ich sei etwas ›neben der Spur‹?«
Violet machte augenblicklich einen Rückzieher. »Na gut, war vielleicht nicht gerade geschickt ausgedrückt, aber ich mache mir Sorgen um dich – wie du damit umgehst.«
»Ich sollte damit erst gar nicht ›umgehen‹ müssen. Eltern sollten ihre Kinder nicht beerdigen müssen! Für einen solchen Verlust sind wir nicht geschaffen. Also verzeih mir bitte, dass ich mich nicht wie die trauernde Mutter im Bilderbuch benehme.« Evelyns Stimme war gefährlich schrill geworden.
»Entschuldige. Ich will dich nicht aufregen. Es ist nur … Ich fürchte, du frisst alles in dich hinein. In meiner Gegenwart hast du jedenfalls noch keine einzige Träne vergossen. Ich bitte dich! Ladendiebstahl? Rauchen? Trinken? Das bist doch gar nicht du. Ich meine, das eine oder andere Glas vielleicht … aber …« Sie verstummte.
»Und was zum Teufel erwartest du von
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