Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
war.
»Vielleicht sollte ich doch bleiben«, hatte sie zum Abschied, noch mit einem Fuß auf der Straße, undeutlich gemurmelt.
»Nein, nein, Mum. Du musst Dad helfen. Ich bin okay. Stacey bleibt bei mir. Sie kümmert sich um mich.«
Jetzt, während Belinda Stacey am Laptop aufmerksam beobachtete, fragte sie sich, ob sie sich zu schnell auf die Gesellschaft der Freundin eingelassen hatte. Sie sehnte sich danach, allein zu sein, sich in Andys alten Pullover zu kuscheln und sich in den Schlaf zu weinen.
»Hm, Stacey. Was machst du da eigentlich?«, erkundigte Belinda sich und sah zu, wie reihenweise Suchergebnisse auf dem Bildschirm erschienen. Sie war selbst erstaunt darüber, wie normal ihre Stimme klang, während sie sich fühlte, als schmerze jeder Quadratzentimeter ihrer Haut unter feinen Nadelstichen.
»Ich versuche rauszubekommen, was mit dir nicht stimmt«, erwiderte Stacey lakonisch.
»Was soll das heißen? Was soll denn mit mir nicht stimmen? Wir kommen gerade von Andys Beerdigung – reicht das nicht als Erklärung?«
»Schon. Aber ich rede von deiner Reaktion am Tag nach seinem Tod. Ich meine das, was du getan hast!« Stacey erwiderte trotzig Belindas Blick.
Belinda rutschte unruhig auf ihrem Polster hin und her. Sie hatte längst vergessen, dass sie am Vorabend betrunken ihre Freundin angerufen hatte. Unter Schluchzen und Schniefen hatte sie ihr am Telefon haarklein alle Begebenheiten jenes grauenvollen Tages beschrieben.
Stacey sah gerade so lange vom Computer auf, um die Hand auszustrecken und Belinda einen verlegenen Klaps auf den Arm zu geben – offenbar ihr Versuch, die vom Schicksal so schwer gebeutelte Freundin zu trösten. Die beiden saßen auf dem Rundumsofa in Belindas Wohnzimmer. »Rundumsofa« war Andys komische (aber irgendwie witzige) Bezeichnung für ihre aus Modulen bestehende Sitzgruppe gewesen. Das Wort gehörte zu jenen Begriffen, die sich allmählich in das tägliche Vokabular eingeschlichen hatten und die man schließlich so häufig benutzte, dass sie einem vollkommen normal erschienen. So zum Beispiel: »Sollen wir heute auf dem Rundum-Kuschelsofa zu Abend essen?« »Nö, wir essen immer vor dem Fernseher. Essen wir am Tisch und setzen wir uns später zum Nachtisch auf das ›Kuschel-Rundum‹.«
Bei diesen Gedanken wurde Belinda wieder wütend – wütend auf Andy: Er hatte sie dazu gebracht, einen unsinnigen Begriff zu verwenden. Als Stacey und Belinda an diesem Abend in die Wohnung zurückgekehrt waren, hatte sie sich überwinden müssen vorzuschlagen, sich auf die Couch zu setzen. Belindas Ärger allerdings schlug gleich wieder in Scham um. Sie kam gerade von seiner Beerdigung und hatte nichts Besseres zu tun, als sich über ihn zu ärgern! Das war kindisch und dumm. Mein Gott, was war nur mit ihr los? Entschuldige, Andy. War nicht so gemeint. Überhaupt nicht.
Dennoch kam Belindas Gereiztheit nicht von ungefähr. Sie musste zugeben, dass der Auftritt von Andys Mutter beim Trauergottesdienst Spuren hinterlassen hatte. Unwillkürlich drängte sich ihr das Bild von Mrs McGavin auf, wie sie in ihrem schicken anthrazitfarbenen Kostüm vor der Kirchentür gestanden hatte, gekleidet wie für einen wichtigen Businesslunch, mit tadelloser Frisur, das offenbar frisch gefärbte Haar kastanienbraun im Sonnenlicht schimmernd, das durch die bunten Kirchenfenster fiel. Belinda dagegen hatte sich in ihrem knielangen grauen Rock und mit dem strähnigen Haar, das an den tränennassen Wangen klebte, ziemlich hausbacken und unattraktiv gefühlt. Und dann Belindas Familie – die sich bemüht hatte, dem Anlass entsprechend in förmlicher Kleidung zu erscheinen, dabei ihre ländlichen Wurzeln jedoch nicht verleugnen konnte. Ihre kleinen Brüder hatten artig ihre Hüte an die Brust gepresst gehalten, die Schwester hatte ein peinlich neu wirkendes Kleid und die Mutter die widerspenstigen Locken streng aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Zopf geflochten getragen. Die sorgfältig für den Anlass polierten, normalerweise lehmverklebten Arbeitsstiefel des Vaters hatten Belinda fast ebenso zu Tränen gerührt wie der Anblick von Andys Sarg.
Dann hatte Evelyn ihre Ansprache gehalten. Ihre Schlussworte hatten Belinda mit geradezu niederschmetternder Wucht getroffen, sodass sie unwillkürlich das dringende Bedürfnis verspürt hatte, nach Andys Hand zu greifen, die nicht mehr greifbar war.
Mann, beinahe hätte ich diese Hexe als Schwiegermutter gekriegt. Nicht auszudenken, wie schlimm …
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