Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
nicht«, entgegnete sie scharf.
»Wie willst du das dann ungeschehen machen? Keine Chance!« Er machte Anstalten, sich in theatralischer Pose wieder in die Kissen zu werfen, doch Evelyn hielt ihn am Ellbogen fest.
»Es reicht! Genug Trübsal geblasen. Wir können das ausbügeln. Deine Mutter hat immer ein paarTrümpfe im Ärmel. Wart’s nur ab!«
Evelyn wurde unsanft in die Gegenwart zurückgeholt, als James mit lauten Schritten die Treppe heruntergepoltert kam.
»Bin dann mal weg!« Er griff sich seine Schlüssel vom Dielentisch und drängte sich an ihr vorbei zur Haustür.
»Wohin willst du?«, fragte sie scharf.
»Raus.« Als sei das Erklärung genug!
»Was macht die Jobsuche?«
»Nicht jetzt, Mum!« Dann war er aus der Tür, bevor sie noch ein Wort sagen konnte.
Seit James zur Beerdigung seines Bruders nach Hause gekommen war, schien er in die Gewohnheit verfallen zu sein, täglich bis ein oder zwei Uhr mittags zu schlafen, anschließend auszugehen und erst in den frühen Morgenstunden zurückzukehren. Sein Sparkonto musste inzwischen ziemlich gelitten haben. Trotzdem schien er keinerlei Zukunftspläne zu schmieden. Evelyn wusste nicht einmal, ob er nicht eines Tages unvermittelt nach Übersee zurückkehren würde. Seine schlechte Stimmungslage wurde nur sporadisch von Wutausbrüchen unterbrochen. In der einen Minute sah er stumm im Wohnzimmer fern, in der anderen lief er Amok in seinem früheren Kinderzimmer und trat den alten Plunder von einer Seite zur anderen. Sie wusste nicht, wie sie auf dieseAusbrüche reagieren sollte. Sie einfach ignorieren? Ihn anbrüllen? Ihn in die Arme nehmen, damit er sich ausweinen konnte? Allerdings gehörten letztere Intimitäten nicht zu den Gepflogenheiten der Familie. Keine Umarmungen. Keine Gespräche über Gefühle. Gefühle wurden unterdrückt. Wurden ignoriert. Die Kommunikation funktionierte knapp und flapsig. Sie fraßen alles in sich hinein.
Evelyn hatte James nicht erzählt, dass sie einen Fallschirmspringerkurs belegt hatte. Sie war nicht sicher gewesen, wie er darauf reagieren würde, dass seine Mutter den Sport auszuüben gedachte, den sie ihm verboten hatte. Bei ihrem ersten Sprung hatten sich Panik und Euphorie abgewechselt. Sie war durch die Luft gewirbelt, wie im freien Fall der Erde entgegengestürzt, atemlos und benommen gelandet. Danach war es sofort zur Sucht geworden. Zwei Tage später war sie erneut gesprungen. Beide MaleTandemsprünge mit Bazza, der, rücklings an sie gegurtet, alle wichtigen Dinge erledigt hatte. Er hatte nach jeweils 300 Metern die Flughöhe durchgegeben und, was am wichtigsten war, den Fallschirm geöffnet. Seitdem war sie hin- und hergerissen zwischen dem dringenden Verlangen, allein zu springen, und ihrer ureigenen, bestürzenden Angst, die schon der Gedanke daran bei ihr auslöste.
Es war ihr gelungen, diese Gedanken eine ganze Weile zu verdrängen, doch schließlich hatte sie ihre Nerven in den Griff bekommen und sich für die Fallschirmspringerlizenz angemeldet. Sie war nicht sicher, weshalb, aber sie brauchte es. Innerhalb weniger Tage hatte sie den ersten Teil der Prüfungsvoraussetzungen erledigt. Dieser bestand aus einem intensiven Bodentraining und einem weiteren Tandemsprung. Jetzt stand ihr erster Solosprung an – und zwar an diesem Nachmittag. Evelyn griff nach ihrem Schlüsselbund und wollte schon zurTür hinaus, als erneut das Telefon klingelte.
»Evelyn McGavin.«
»Hallo, Evelyn. Wie geht es dir? Gabbie hier … aus dem Büro.« Die Anruferin sprach langsam und deutlich, wie mit einem Kleinkind.
»Gut. Danke der Nachfrage, Gabbie. Was kann ich für dich tun? Ich wollte gerade zurTür raus.« Evelyn blieb kurz angebunden.
»Ohhh! Du hast was vor? Wie schön für dich! Ich halte dich auch nicht lange auf. Alby hat mich gebeten, dich anzurufen, um zu fragen, wann du wieder zu arbeiten gedenkst. Wir wollen dich natürlich nicht drängen. Aber du scheinst wieder etwas zu unternehmen, und das ist doch ein gutes Zeichen, oder?« Gabbies betuliches Geplauder ging Evelyn auf die Nerven.
»Du kannst Alby ausrichten, dass ich Resturlaub von schätzungsweise sechs Monaten auf meinem Konto habe. Ist im Lauf der Jahre ganz schön was zusammengekommen. Durch Bonustage aufgrund meiner langjährigen Firmenzugehörigkeit und all die vielen Urlaubswochen, die ich nie in Anspruch genommen habe. Das bedeutet, dass ich erst dann ins Büro zurückkomme, wenn ich mich verdammt gut und bereit fühle.« Das hatte gesessen
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