Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
legte die Finger sanft gegen die Tür, gestattete sich flüchtig den Gedanken, Andy würde sie im Treppenhaus mit ausgebreiteten Armen erwarten. Dann allerdings gewann der gesunde Menschenverstand die Oberhand. Das war nicht seine Stimme! Unmöglich! Sie weigerte sich standhaft, die blödsinnigen Gedanken weiterzuspinnen. Die Party gegenüber war einfach im selben Augenblick zu Ende gegangen, als sie sich beschweren wollte. Und der Ruf »Entschuldigung« bedeutete vermutlich nur, dass der Gastgeber gemerkt hatte, wie spät es bereits geworden war, und alle, die sich gestört fühlten, um Verzeihung gebeten hatte.
Andy spukt nicht . Andy ist tot. Andy gibt es nicht mehr.
In den darauffolgenden zwei Wochen ging das Leben im gewohnten Trott weiter – so gut, wie das in einer Zwillingsschwangerschaft eben möglich war, die ihren Körper (beziehungsweise ihr Leben) doch stark strapazierte. Nach den Feiertagen nahm sie auch die Arbeit im Schwimmbad wieder auf und absolvierte so viele Kurse, wie sie während der Semesterferien bewältigen konnte. Sie erledigte Einkäufe, traf sich mit Freundinnen, las fleißig Bücher über Babypflege und mied ebenso fleißig das Fitnessstudio. Hatte es überhaupt noch einen Sinn, ihre Mitgliedschaft zu verlängern? Schließlich hielt sie Schwimmkurse ab. Dadurch hatte sie ihres Erachtens genug Bewegung. Und natürlich hatte ihre plötzliche Abneigung gegen das Fitnessstudio absolut nichts damit zu tun, dass ihr unglücklicher Sturz vom Laufband viele Zuschauer gehabt hatte.
Eines Abends kam Belinda nach einem Doppelkurs im Schwimmbad mit einem Kofferraum voller Einkäufe nach Hause. Sie hatte sich auf dem Heimweg in einem Supermarkt nicht nur mit den üblichen Lebensmitteln, sondern mit einem Vorrat an all jenen Dingen eingedeckt, die man in den ersten Wochen nach einer Zwillingsgeburt benötigte: Windeln, Feuchttücher, Badeöl und Watte, zusammen mit anderen Utensilien, die sie in den einschlägigen Regalen des Supermarkts entdeckt hatte. Als Belinda nun in den vollgepackten Kofferraum ihres Autos starrte, bereute sie , Staceys Angebot, ihr beim Ausladen zu helfen, ausgeschlagen zu haben. Die letzten Schwangerschaftswochen waren mühsam. Ihr Rücken schmerzte, die Fußgelenke waren geschwollen, und je mehr sie an Gewicht zulegte, desto weniger konnte sie tragen.
Belinda nahm als Erstes die beiden vordersten Tüten heraus, ließ die Kofferraumklappe geöffnet und ging zum Lift. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihre Einkäufe nach und nach bis zum Aufzug zu transportieren, doch der Drang zur Toilette wurde so groß, dass sie sofort mit dem Lift in ihr Stockwerk hinauffuhr. Dabei hoffte sie inständig, dass sich inzwischen niemand an ihren Einkäufen vergreifen würde. Belinda sank müde gegen die Spiegelwand der Aufzugkabine und stellte die beiden schweren Einkaufstüten neben sich ab, während der Lift langsam aufwärtsfuhr. Als sie den langen Flur zu ihrer Wohnung hinter sich gelassen und die Tür aufgeschlossen hatte, war sie erschöpft und musste so dringend auf die Toilette, dass sie es gerade noch ins Bad schaffte.
Beim Händewaschen zögerte sie kurz und warf einen Blick in den Spiegel. Sie sah furchtbar aus: dunkle Ringe unter den Augen, gebeugte Haltung, das Haar von der Heimfahrt bei geöffneten Fenstern wild zerzaust.Am liebsten hätte sie sich ins Bett gelegt, die Augen geschlossen und für eine Stunde die Welt vergessen. Doch der vollgepackte Kofferraum konnte nicht warten. Sie verließ das Badezimmer, als Selbstmitleid wie eine Brandungswelle über ihr zusammenschlug und ihre Gliedmaßen schwer werden ließ. Das ist nicht fair! Warum muss ich das alles allein ausbaden? Ich hatte einen Verlobten, ein Leben! Ich war fit und stark und kompetent und zufrieden und schön, und jetzt … Nichts ist mir geblieben! Und beinahe gleichzeitig schien ihr Babybauch unter einem wahren Trommelwirbel an Tritten aus den Fugen zu geraten.
Augenblicklich stellten sich Schuldgefühle ein. Wie konnte sie nur so undankbar sein? Natürlich war ihr etwas geblieben – sogar in doppelter Ausführung! Jedenfalls schienen die beiden entschlossen, sich jederzeit bemerkbar zu machen. Und worüber beschwerte sie sich überhaupt? Sicher, ihr Leben hatte sich grundlegend verändert. Andy dagegen war tot. Er hatte kein Leben mehr.
Angesichts dieser Erkenntnisse holte Belinda erst einmal tief Luft. Also gut! Bring es einfach hinter dich. Wenn der ganze Kram ausgeladen ist, kannst du dich auf die Couch
Weitere Kostenlose Bücher