Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
der Bruder meines Vaters ist.« Sie hielt inne und wartete auf eine Antwort. Diese blieb aus verständlichen Gründen aus.
»Mein Gott, lass den Unsinn!«, schimpfte sie mit sich selbst. »Andy ist nicht da. Er lebt nicht mehr. Er ist kein Schutzengel. Und er spukt nicht. FINDE DICH DAMIT AB !«
Die restliche Strecke legte sie bei geöffneten Fenstern und lauter Musik zurück, ohne einen weiteren Gedanken an die Ereignisse der letzten Zeit zu verschwenden.
Zu Hause in der Stadt verblasste die überraschende »Familienbeichte« des Vaters zu einer flüchtigen, für Belinda bedeutungslosen Episode. Sie war vorrangig damit beschäftigt, die Gedanken an einen »spukenden« Andy geradezu mantrahaft aus ihrem Bewusstsein zu verbannen: Andy ist tot. Andy gibt es nicht mehr. Das sagte sie sich immer dann, wenn die Versuchung zu groß wurde, eine peinlich einseitige Unterhaltung mit dem Toten zu führen.
Und diese Versuchung stellte sich häufiger ein, als ihr lieb sein konnte. Da war zum Beispiel bei ihrer Rückkehr aus den Weihnachtsferien die Entdeckung, dass die defekte Klappe ihres Briefkastens, die vor ihrer Abreise noch windschief aus den Angeln gehangen hatte, wie von Geisterhand repariert worden war. Jetzt war der Briefkasten wieder intakt. Belinda hatte Mühe, sich nicht beim »himmlischen« Andy zu bedanken, und redete sich tapfer ein, der Hausmeister müsse seine Hand im Spiel gehabt haben; ein Hausmeister, den sie allerdings in den zwei Jahren, die sie in diesem Wohnblock lebte, nie auch nur flüchtig gesehen hatte. Davon abgesehen hätte ein Hausmeister, so es ihn geben sollte, sicher längst etwas gegen die ärgerliche Dauerbeschallung durch die Fehlerdurchsage im Lift wegen des defekten Aufzugnotrufs unternommen. Da diese Gedanken jedoch unproduktiv waren, wurden sie erfolgreich verdrängt.
Dann kam Silvester. Seit ihrem neunzehnten Lebensjahr der erste letzte Tag im Jahr, den sie allein begehen würde. Sie hatte sich einen schwierigen Abend vorgestellt. Natürlich. Dass es keinen Andy mehr gab, der sie um Mitternacht umarmte und küsste, würde wehtun. Dass der Abend letztendlich so deprimierend verlaufen sollte, damit allerdings hatte sie nicht gerechnet. Sie blieb zu Hause und versuchte die Partys zu ignorieren, die in den umliegenden Apartments gefeiert wurden. Ihre Freundinnen hatten allesamt versucht, sie aus der Wohnung zu locken. Belinda jedoch fühlte sich fett und unattraktiv und hatte darauf bestanden, allein zu Hause zu bleiben. Und der Kontakt zu Andys Freunden war seit der Beerdigung eingeschlafen. Sie hatte noch immer nicht gewagt, einen von ihnen anzurufen und von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Umgekehrt hatte auch niemand Kontakt zu ihr gesucht.
Belinda verbrachte daher eine trostlose Nacht, surfte in Facebook und las die Statusmeldungen, die andere von ihren iPhones schickten:
JULIA GIANNACOPOLOUS Das Feuerwerk des Jahres heute in der City. Und was ist mit mir? Soll ich mich hier allein vergnügen oder was?
STACEY THOMAS denkt an Belinda und hofft, dass sie friedlich schläft.
CHARLI SAUNDERS hat eine geile Party im Keller laufen.
LEAH ATTARD OMG , in NY ist der Silvesterteufel los! Wenn du heute nicht in dieser Stadt bist, kannst du dich begraben lassen. Ehrlich! Kann es kaum erwarten, euch die Bilder zu mailen!
Schließlich riss sich Belinda vom Computer los und ging ins Bett. Allerdings erst nachdem sie Leah Attard als Freundin aus ihrem Facebook-Account entfernt hatte. Um drei Uhr morgens hatte sie dann genug davon, sich ruhelos im Bett herumzuwälzen. Es war unerträglich heiß. Der kleine Ventilator auf ihrem Nachttisch konnte ihr kaum Kühlung verschaffen. Und die Bewohner der gegenüberliegenden Wohnung feierten noch in den frühen Morgenstunden ausgelassen und mit dröhnend lauter Musik. Mittlerweile brauchte Belinda ihren Schlaf. Sie schwang sich aus dem Bett und lief im Nachthemd und mit zerzaustem Haar in Richtung Wohnungstür, entschlossen, die Nachbarn zu bitten, die Musik leiser zu stellen. Während sie durch das Wohnzimmer stolperte, murmelte sie geistesabwesend: »Wenn du noch immer spuken würdest, Andy, dann hättest du inzwischen ganz sicher was gegen diesen verdammten Lärm unternommen!«
Sie hatte schon die Hand an der Türklinke, war kurz davor, auf den Flur hinauszutreten, als die Musik plötzlich verstummte. Eine Männerstimme rief: »Entschuldigung!« Danach folgte Stille. Kein Laut war mehr zu hören.
»Andy?«, flüsterte sie unwillkürlich. Sie
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