Mit dir in meinem Herzen: Roman (German Edition)
nur wieder mal nachfragen. Wie geht’s dir heute?« Gabbies zuckersüße Stimme bohrte sich jedes Mal unangenehm penetrant in ihr Ohr. Die Anrufe kamen jetzt fast täglich und mit aufreizender Regelmäßigkeit.
Dann kreuzte eines Tages ihr Chef vor ihrer Haustür auf. »Wir verstehen, was du durchgemacht haben musst, aber …«, begann er.
Evelyn antwortete sachlich und ohne Zögern: »Nein, das verstehst du nicht,Alby. Du hast keinen blassen Schimmer.« Und damit machte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Es war ein gutes Gefühl – auch wenn sie eigentlich selbst nicht wusste, weshalb sie nicht schon längst an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war.
Am darauffolgenden Abend beschloss sie, dass zwar die Zeit für eine Rückkehr in ihren Job noch nicht reif war, sie jedoch die Treffen des Literaturkreises wieder wahrnehmen sollte. Auch wenn diese abendliche Gesprächsrunde im Vergleich mit ihrem neuen Zeitvertreib wenig prickelnd zu sein schien. An jenem Abend sollte dieser Lesekreis bei Violet stattfinden. Die Runde bestand aus sehr unterschiedlichen Teilnehmern: zwei nur schwer erträglichen Frauen aus Evelyns Büro, Müttern ausViolets Kindergarten mit einer etwas hyperaktiven Schwiegermutter sowie Violets ausgesprochen spießigem, altmodischem und doch glücklich (und heterosexuell) verheiratetem Nachbarn namens Neville.
Violet war freudig überrascht, als Evelyn vor ihrer Tür stand. »Hallo, verlorene Schwester«, begrüßte sie Evelyn gut gelaunt.
»Verlorene? Wir haben erst vor einer Woche miteinander Kaffee getrunken.«
»Sicher. Aber was unseren Literaturkreis betrifft, bist du in letzter Zeit ein eher seltener Gast.«
Evelyn schüttelte nur den Kopf und ging an der Schwester vorbei ins Haus.
Die anderen Teilnehmer der Gruppe freuten sich ebenfalls über Evelyns Erscheinen. »Darling, es ist schön, dich wieder bei uns zu haben!«, rief Neville, und die Stimme versagte ihm beinahe vor Rührung.
Evelyn warf einen Blick in die Runde, die sich im Wohnzimmer der Schwester versammelt hatte – alle in ihren bequemen pastellfarbenen Strickjacken (Neville eingeschlossen), die ungeachtet der Jahreszeit und Witterung beinahe eine Art Klubuniform waren. Dabei kamen ihr zwei Gedanken gleichzeitig. Der erste lautete schlicht: Gott, sehen die alle langweilig aus! Und als Nächstes drängte sich unwillkürlich und deutlich eine Erinnerung auf. Wie so oft inspiriert von vertrauten Gerüchen oder anderen Details: Sie dachte an eine Veranstaltung des Lesezirkels, die schon einige Jahre zurücklag. Es waren andere Gesichter, die dabei vor ihrem geistigen Auge auftauchten. Die Gesichter der Mitglieder, die inzwischen ausgeschieden waren. Nur die Strickjacken waren dieselben. Und obwohl jener Lesekreis in ihrem eigenen Wohnzimmer stattgefunden hatte, war doch die Atmosphäre vergleichbar: warmes Licht, eine Schale mit Gebäck auf dem Couchtisch und Teetassen zwischen den unterschiedlichen Buchtiteln.
An jenem besonderen Abend hatten sie gerade mit einer lebhaften und geistreichen Diskussion über die Vorzüge eines Autors begonnen, als Andy, James und drei oder vier ihrer Freunde in den Raum gestürmt waren – alle in pastellfarbenen Strickjacken. Sie hatten zwischen den Mitgliedern des Literaturkreises Platz genommen und die Unterhaltung mit todernsten Gesichtern und heftigem Nicken verfolgt. Violet war ganz aus dem Häuschen gewesen, Neville hatte sich aufgeregt und von Neuzugängen gefaselt, die nicht offiziell aufgenommen worden wären, und Beryl, die Schwiegermutter mit dem blau getönten Haar, war über das »junge Blut« in der Gruppe begeistert gewesen. Die Jungs hatten die Komödie gut zwanzig Minuten durchgehalten und sich dann gelangweilt verkrümelt. Sie hatten sich offenbar in einen Pub verzogen, um ihren tollen kleinen Streich gebührend zu begießen.
Zurück in Violets Wohnzimmer, beschlich Evelyn Nostalgie. Sie hätte viel dafür gegeben, diesen Abend noch einmal zu erleben, an dem sie Andys Existenz für eine Selbstverständlichkeit gehalten hatte. Und Evelyn fragte sich dabei, ob ihre Rückkehr in den Lesekreis vielleicht doch verfrüht gewesen war. Für Überlegungen dieser Art allerdings war es zu spät. Neville führte sie bereits zur Couch. Die jungen Frauen aus der Firma empfingen sie begeistert und fragten, ob es stimme, dass sie dem Chef die Tür vor der Nase zugeknallt habe.
Später, als alles vorüber war und Evelyn und Violet die Kaffeetassen in die Spülmaschine geräumt hatten,
Weitere Kostenlose Bücher