Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
sogar.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen legte am 10. Dezember 1948 recht deutlich fest, was der Mensch neben den Rechten auf Freiheit und Leben und Würde brauchen könnte. In Artikel 25 heißt es: »Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.«
Mehr als 15 Jahre lang bemühten sich die Vereinten Nationen, in diesen Katalog ein Menschenrecht auf Wasser aufzunehmen. 2010 war es endlich so weit – nur sind das Recht wie auch der komplette Artikel 25 nicht einklagbar. Die Verankerung hat nur symbolischen Wert, der durchaus Einfluss auf die Politik hat, doch das hilft den 884 Millionen Menschen weltweit, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben und es doch dringend bräuchten, derzeit nicht wirklich.
Es gibt aber auch den Paragrafen 811 der Zivilprozessordnung. Der existiert seit dem Jahr 1879 und legt seitdem die Dinge fest, die einem Menschen nicht gepfändet werden dürfen – auch wenn wir sonst nichts mehr haben. Das sind also jene Sachen, ohne die ein Bürger in Deutschland keine menschenwürdige Existenz führen kann. Was für ein spannender Paragraf!
Nicht gepfändet werden dürfen nach diesem Gesetz: Kleidungsstücke, Wäsche, Betten, Haus- und Küchengeräte, Gartenhäuser, Wohnlauben, Nahrungs-, Feuerungs- und Beleuchtungsmittel für vier Wochen, Kleintiere in beschränkter Zahl sowie eine Milchkuh oder insgesamt zwei Schweine, Ziegen oder Schafe, Dienstkleidungsstücke sowie Dienstausrüstungsgegenstände, die zum Betrieb einer Apotheke unentbehrlichen Geräte, Gefäße und Waren. Bücher, die zum Gebrauch des Schuldners und seiner Familie in der Kirche oder der Schule oder einer sonstigen Unterrichtsanstalt oder bei der häuslichen Andacht bestimmt sind. Die in Gebrauch genommenen Haushaltungs- und Geschäftsbücher, die Familienpapiere sowie die Trauringe, Orden und Ehrenzeichen. Künstliche Gliedmaßen, Brillen und andere wegen körperlicher Gebrechen notwendige Hilfsmittel.
Diese Dinge darf man in Deutschland brauchen. Der Gerichtsvollzieher soll dem Schuldner »nichts Überflüssiges belassen«. So steht es in der Deutschen Gerichtsvollzieher-Zeitung . Ja, diese Zeitung gibt es wirklich, sie erscheint seit dem Jahr 1881 und hat derzeit eine monatliche Auflage von mehr als 5400 Exemplaren. Wer also bei der Schufa grandios durchfällt, der kann sich nur noch auf diesen Paragrafen berufen.
Wissen für Nichtjuristen
Die Schufa ist keine staatliche
Behörde. Sie ist ein privatwirt-
schaftliches Unternehmen und
verpflichtet, den Bürgern Auskunft
zu erteilen über die gespeicher-
ten Daten.
Der Paragraf ist faszinierend – auch wenn heutzutage kaum jemand eine Milchkuh braucht oder Katzenstreu für vier Wochen. Viel interessanter als das Gesetz selbst sind die Urteile, die dazu führen, dass die Liste der zu brauchenden Dinge reduziert oder erweitert wird, und damit einen Einblick bieten, was den Menschen in Deutschland wichtig war, was ihnen wichtig ist und was ihnen wichtig sein wird.
An diese Urteile halten sich Gerichtsvollzieher gewöhnlich. Sie werden immer dann gefällt, wenn der Gerichtsvollzieher etwas pfänden möchte und der Schuldner dagegen klagt. Dann muss ein Gericht entscheiden: Braucht man das für ein menschenwürdiges Leben oder nicht? So haben wir es mit einem sich ständig erneuernden Katalog zu tun, in dem steht, was wir brauchen dürfen und was uns keiner wegnehmen darf.
Im Jahr 1967 etwa wurde die Klage eines Familienvaters mit Frau und fünf Kindern abgewiesen. Der hatte sich erdreistet, eine Waschmaschine auf seinen Brauchen-Zettel zu schreiben. In der Begründung des Urteils heißt es: »Obwohl die Zahl der Besitzer einer Waschmaschine in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist, gibt es noch zahlreiche Familien – auch in gehobener sozialer Stellung –, die keine Waschmaschine besitzen. Die Schuldner müssen eben, wie das früher allgemein üblich war, die Wäsche mit der Hand waschen.« Erst zehn Jahre später wird die Waschmaschine für unpfändbar erklärt. Der Fernseher galt einst ebenso als überflüssiges Gerät, das gewöhnliche Handy wurde 2006 zum unpfändbaren
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