Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
Tanzstile aus vier Jahrzehnten: Bei rockigeren Liedern präsentiert er den Mir-ist-eine-Bowlingkugel-auf-den-rechten-Fuß-gefallen-Hüpfer mit Luftgitarre, bei Hip-Hop packt er sich eine jüngere Frau und vollführt die Aufwärmübungen eines Menschen, der gerne Koitus betreibt – er kann sogar Electric Slide und Wippen-und-mit-den-Fingern-Schnippen, wenn er sich einer Frau nähert, die sich nun gar nicht bewegen kann.
Hin und wieder verschwindet er.
Er verfügt über die Energie eines 20 Jahre alten Studenten, der drei Mal pro Woche laufen geht, Fußball spielt und hin und wieder ein Fitnessstudio von innen sieht. Nur: Ich war mit 20 Jahren nicht so fit wie er, obwohl ich Fußball spielte und hin und wieder im Fitnessstudio war. Ich frage mich, woher er diese Energie nimmt.
Hin und wieder zuckt er auch beim Tanzen nach rechts.
Ich hatte mir das Leben eines Drogendealers anders vorgestellt – wahrscheinlich deshalb, weil ich mir nur vorstellen konnte, was ich zuvor im Fernsehen oder in Büchern kennengelernt hatte. In meiner Fiktion ist ein Dealer entweder ein stinkreicher Sack in einer Villa voller Models und Ganoven, er organisiert nebenher Boxkämpfe und sorgt dafür, dass die pelzverarbeitende Industrie auch weiterhin existiert. Oder er ist ein schüchterner Student, der unerkannt um die Häuser zieht und seinen ehemaligen Schulkameraden in dunklen Gassen ein bisschen Marihuana verkauft.
Die Realität ist manchmal verrückter als die Fantasie.
Irgendwann möchte ich nach Hause. Ich kann Toby eine Stunde lang nicht finden, also gehe ich und bedanke mich per SMS für das Gespräch.
Ich will nicht mehr mit ihm sprechen, weil ich keine Lust mehr habe. Zum ersten Mal seit Beginn des Projekts will ich aufhören. Da gibt es einen Menschen, der kann sich frei bewegen, der tanzt in Diskotheken, der fühlt sich wie Leonardo DiCaprio am Bug der »Titanic« – und der verdient sich dieses Leben damit, dass er das Leben von anderen kaputt macht. Und es scheint kaum jemanden zu interessieren, denn selbst wenn Toby aufhört oder erwischt wird, wartet schon der Nächste, der sein Leben übernimmt.
Und wir sehen nur dabei zu.
Das macht mich wahnsinnig.
Ich sehe seine Antwort am nächsten Morgen und kann mir nur vorstellen, wie er die Nachricht in sein Handy getippt hat. Er hat nebenbei High Fives verteilt und erzählt, dass er mit einem berühmten Schriftsteller hier sei. Wahrscheinlich haben die Leute dann die Augenbrauen hochgezogen und sich gedacht: »Jürgen wer? Kennt kein Mensch, diesen Typen!« Aber das ist Toby egal. Er tanzt und verteilt High Fives. Und nebenbei verkauft er Drogen.
Erinnert sich noch jemand an die Zeit zwischen Abitur und Studium, zwischen Schulabschluss und Beginn der Ausbildung? Diese drei bis sechs Monate, in denen das Leben daraus bestand, sich an einem See zu treffen, sich mit Bier und billigem Schnaps zuzuschütten und sich dann auf die Suche nach einem paarungswilligen Gleichaltrigen zu machen? Als die wichtigste Tätigkeit am nächsten Morgen darin bestand, sich eine Kopfwehtablette zu besorgen, den Freunden von der letzten Nacht zu erzählen und den nächsten Abend zu planen? Als die größte Sorge im Leben war, genügend Alkohol und paarungswillige Gleichaltrige auf die nächste Party zu bekommen?
Nein? Keine Sorge, ich auch nicht.
Hin und wieder tauchen in meinem Kopf Bilder auf, und ich weiß dann, dass es eine tolle Zeit war. Aber sie kommt mir weit entfernt vor, aus der Erinnerung ist ein Film geworden, den ich mir hin und wieder gerne ansehe und worüber ich herzlich lachen muss, in dem ich aber um Gottes willen nicht mehr mitspielen möchte. Ich halte mich manchmal für ein missverstandenes Genie – dann stelle ich fest, dass ich kein Genie bin und die anderen mich einfach nur für dumm halten. So geht es mir an diesem Abend: Ich bin der Dumme.
Toby spielt seit 20 Jahren in diesem Film mit. Er muss einem nicht leidtun, denn er spielt gerne mit. Aber wenn ich ihn das nächste Mal sehe, dann muss ich aus drei Optionen wählen, von denen für mich höchstens zwei infrage kommen: Entweder gebe ich ihm High Five. Oder ich zeige ihn an. Oder ich haue ihm gewaltig aufs Maul.
Kapitel 15
Der Letzte zahlt die Rechnung
Wer kennt das nicht: Da führt man seine Liebste in ein schickes Restaurant, bestellt ihr das eindrucksvollste Gericht auf der Speisekarte – und was passiert? Die Freundin findet eine Perle in einer der Austern. Sie darf sich also nicht nur auf Sodbrennen freuen,
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