Mit einem Bein im Modelbusiness
Mut zuzusprechen. Ich fühlte mich hundeelend und supergerührt zugleich.
» Alter, wenn du was brauchst, ruf einfach, okay? Wir sind für dich da.«
» Hast du schon was gegessen? Soll ich dir was kochen?«
» Willst du einen Vitaminshake?«
» Hast du genügend Videos, die du gucken kannst?«
» Soll ich dir jemanden besorgen, der ein bisschen Krankenschwester spielt?«
Das Schlimmste an dieser Situation war gar nicht mal die Entzündung meines Beins, sondern diese völlige Hilflosigkeit. Und ich konnte nichts dagegen tun. Mir war das wahnsinnig unangenehm, weil ich so nicht wahrgenommen werden wollte. Aus Mario, dem ganz normalen Model, wurde plötzlich der kranke, einbeinige Behinderte, der auf die Hilfe anderer angewiesen war. Ich fühlte mich schwach und verwundbar und beschloss, so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen. Ich war noch nie ein Opfer gewesen und würde mit Sicherheit nicht in Mailand damit anfangen.
Meine kugelsichere Weste
Während meiner gesamten Kindheit gab es eigentlich nur eine Situation, in der ich mich ähnlich hilflos fühlte wie jetzt in Mailand – wenn wir im Sommer ins Freibad gingen. Natürlich fand ich es toll, mit meiner Clique auf der Wiese zu chillen, am Kiosk Süßigkeiten und Pommes zu holen und mit den Jungs Fußball zu spielen. Doch irgendwann wollten meine Kumpels auch mal ins Wasser springen, und genau da fingen meine Probleme an. Zum Schwimmen musste ich die Orthese ja abnehmen, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Teil bei unseren Sachen zu lassen und zum Becken zu hüpfen. Auch wenn es oft nur zehn oder zwanzig Meter waren, schauten mich doch alle an und dachten sich ihren Teil. Wie heißt es noch? Blicke sagen mehr als tausend Worte!
Diese kurzen, aber extrem intimen Momente waren meine Achillesferse, weswegen ich meine Orthese auch nie als Belastung oder gar als Fremdkörper empfand. Im Gegenteil, Sie war schon immer mein Weggefährte, meine kugelsichere Weste. Mit Orthese fühle ich mich komplett, ohne sie bin ich erst behindert. Gerade in der Zeit, als ich begann, mich für Mädchen zu interessieren, war es nicht immer einfach, damit klarzukommen. Obwohl ich die besten Freunde hatte, die man sich nur wünschen konnte, echte Kumpels, die mir ohne Wenn und Aber den Rücken freihielten – wenn das hübsche fremde Mädchen auf der anderen Seite der Wiese plötzlich ihr Gesicht verzieht, nur weil du deine Orthese ablegst, dann war’s das. Kopfschuss und tot. Und da ich mich eben nicht permanent diesen Situationen aussetzen wollte, musste ich kreativ werden und mir ständig neue Gründe überlegen, warum es viel mehr Spaß machte, bei 30 Grad auf den Bolzplatz statt ins Schwimmbad zu gehen. Auch konnte ich ja bis zu meinem elften Lebensjahr nicht richtig Fahrrad fahren. Ziemlich ungünstig, wenn die Lieblingsbeschäftigung deiner Kumpels war, mit ihren neuen BMX -Rädern durch den Stadtwald zu crossen. Doch anstatt mir die große Sinnfrage zu stellen, grübelte ich lieber darüber nach, wie ich sie dazu überreden könnte, ihre Bikes am nächsten Tag in der Garage zu lassen. Fantasie war gefragt. Ich ließ mich nicht unterkriegen.
Eine ungewöhnliche Nacht
Mir ging es von Tag zu Tag besser. Ich konnte auch schon einigermaßen auftreten, aber die Schmerzen waren immer noch da. Insgeheim hatte ich zwar gehofft, vielleicht den letzten Casting-Tag noch mitzunehmen, aber in Absprache mit Peter und der Agentur ließ ich es doch bleiben. Das Risiko, dass die Wunde wieder aufgehen könnte, war einfach zu groß. Außerdem wollte ich die Show für Alexis Mabille nicht auch noch in Gefahr bringen. Es war so oder so schon schlimm genug. Mein Konto bei der Agentur hing derbe im Minus, und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Ich musste es hinnehmen und so schnell wie möglich abhaken. Der Flug nach Paris war bereits gebucht, also sagte ich mir das einzig Vernünftige: Wenn du schon die nächsten Tage hier in Mailand abhängen musst, dann kannst du wenigstens eine gute Zeit haben. Sollen doch die anderen Trübsal blasen. Ich traf mich mit Eddie auf einen Espresso in seiner Galerie, machte es mir mit ein paar Büchsen Coke Light im Park gemütlich und schaute mir Sehenswürdigkeiten an, für die ich in den vergangenen Wochen keine Augen gehabt hatte. Mein Bein bereitete mir bald so gut wie keine Probleme mehr, und wenn ich langsam ging, war das Laufgefühl fast wie immer. Ich fühlte mich positiv und hatte die Enttäuschungen der letzten Zeit gut
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