Mit einem Bein im Modelbusiness
hätte sie am liebsten in den Arm genommen.
Sie seufzte, als ob sie meine Gedanken lesen konnte.
» Also, ich hatte so eine Gürteltasche um meine Hüfte hängen«, fuhr ich fort, » in der umgerechnet etwa 30 Euro steckten. Es dauerte nicht lange, bis der Reißverschluss offen und das Geld weg war. Im Nachhinein war es natürlich meine eigene Schuld. Ich habe mich ablenken lassen. Ich war umringt von zwanzig, dreißig Kindern, die mich alle anfassen wollten, vor allem meine blonden Haare. Am liebsten hätten sie mir jedes Haar einzeln ausgezupft.«
Maia lächelte. Wahrscheinlich konnte sie sich alles genau vorstellen.
» Mein Vater und seine Kumpels lachten sich nur kaputt über mich. Sie hätten locker eingreifen können, taten es aber nicht. Sie wollten mir eine Lektion erteilen, verstehst du? Zuerst war ich supersauer darüber, dass diese Kids mich abgezogen hatten, aber dann …«
Ich rutschte ein bisschen höher, um bequemer liegen zu können.
» Weiter, weiter«, quengelte sie.
» Wir gingen also in diese Bar, und sofort kamen unzählige Mädchen zu mir, umarmten mich und tatschten mich überall an. Und die, die nicht mehr an mich rankamen, tanzten für mich. Mir war das alles zu viel, und ich bin rot angelaufen wie eine Tomate.
› Papa, ich muss hier raus‹, meinte ich schnell.
› Du musst gelassener werden, Junge. Komm setz dich zu uns an die Bar.‹
Dann sagte er etwas auf Portugiesisch, und die Ladys ließen lachend von mir ab.
› Was hast du zu ihnen gesagt?‹, fragte ich.
Grinsend zog er einen Hocker heran und gab dem alten Mann hinter dem Tresen ein Zeichen, indem er vier Finger in die Luft streckte. Der nickte und holte eine Flasche Cachaca aus dem Schrank.
› So, wir trinken erst mal einen ordentlichen Zuckerrohrschnaps, du beruhigst dich wieder, und dann sehen wir weiter.‹
Ich war völlig von der Rolle. In jedem Menschen, der mir zu nahe kam, sah ich plötzlich einen potenziellen Räuber oder Killer. Meine Hände zitterten.
Der Barmann kam mit vier Schnapsgläsern und schenkte uns ein. Er blieb vor uns stehen, wartete, bis wir das erste Glas geext hatten, und goss schweigend nach.
Eine Lektion fürs Leben
› Sieh mal‹, begann mein Vater, während sich seine beiden Freunde mit dem alten Mann unterhielten. › Ich habe dich nicht ohne Grund mit hergenommen. Du wirst in deinem Leben noch oft in schwierige Situationen kommen. Die Fähigkeit, in diesen Momenten die Perspektive zu wechseln, ist verdammt hilfreich, um mit allen möglichen Problemen des Alltags fertig zu werden. Am Ende ist es meist gar nicht so schlimm, wie man am Anfang glaubt. Du musst nur erkennen, dass jedes Ereignis unterschiedliche Aspekte hat. Alles ist relativ. Du bist doch selbst das beste Beispiel dafür.‹
› Wie meinst ’n das?‹, fragte ich und schob nervös mein Glas hin und her. Mein Rachen brannte. Verdammtes Feuerwasser!«
Maia lachte und hörte gespannt zu.
»› Na, guck dich doch an: Du bist mit einem verkürzten Bein auf die Welt gekommen und musst für immer eine Orthese tragen, um vernünftig laufen zu können. Für die meisten Menschen wäre das ein Horrorszenario, weil sie deine Situation eben aus ihrer Sicht bewerten. Sie sehen ihre eigenen gesunden Beine und könnten sich, selbst mit viel Fantasie, ein Leben mit nur einer Stelze gar nicht vorstellen. Für dich jedoch ist es völlig natürlich. Das meine ich mit Perspektivenwechsel. Kapiert?‹
› Eigentlich nicht‹, gestand ich.
› Okay, pass auf: Wenn dich jemand richtig böswillig verarscht hat, dann ist die erste spontane Reaktion, zornig zu werden. Vielleicht empfindest du sogar Hass.‹
› Ja‹, nickte ich, › ganz genau.‹
› Gut! Wenn du also Schwierigkeiten mit jemandem hast, mit deiner Freundin, deinem Chef oder sonst irgendwem, dann wird dich deine Wut nie weiterbringen. Du wirst immer in einer Sackgasse landen. Versuche lieber, dich in die Lage des anderen hineinzuversetzen und abzuwägen, wie du selbst in seiner Situation reagieren würdest. Stell dir vor, wie es wäre, in der Haut des Jungen zu stecken, der dich gerade beklaut hat. Das wird dir helfen, eine Ahnung von seinen Gefühlen zu bekommen.‹
› Und dann?‹, sagte ich und nippte an meinem Glas. › Er hat mich beklaut. Was interessieren mich seine Gefühle?‹
› Du bist immer noch wütend auf ihn, okay, aber denke ein paar Schritte weiter. Was macht er wohl gerade mit dem Geld, das hier übrigens ein ganzes Monatseinkommen ist? Vielleicht
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