Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
hat mich reingelegt.
Eine gute Stunde später habe ich einigermaßen rekonstruiert, was sich vor knapp fünf Monaten in der Vereinsbank München zugetragen haben muss: Am 11. Dezember, Donnerstagabend, habe ich in meinem Büro sechs Mappen für die am nächsten Tag anstehende Präsentation gefertigt und sie, gemeinsam mit den Folien für den Overhead-Projektor, auf meinem Schreibtisch gestapelt. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag muss irgendjemand meine Zahlen manipuliert, die Unterlagen ausgetauscht, dabei jedoch die letzte Mappe in dem Wust auf meinem Schreibtisch übersehen haben. Die habe ich dann bei meiner Aufräumaktion gefunden und sie in der Annahme, ich könnte nicht mehr bis sechs zählen, in meiner Schreibtischschublade versenkt. Während der Präsentation stand ich wegen Simons SMS so neben mir, dass mir die falschen Zahlen noch nicht einmal aufgefallen sind. Jemandem schien mein Erfolg bei Wisenberg Consulting missfallen zu haben. Aber wem? Wer wollte mich mit dieser linken Nummer abservieren? Wer wusste, dass ich wegen der Trennung von Simon kurz vor dem Zusammenbruch stand? Und wer hat von meinem Rausschmiss profitiert?
Während mein Kopf noch versucht, alle möglichen Ausflüchte zu finden, sagt mir mein Instinkt längst, wer es war: Benjamin.
»Dem hau ich aufs Maul«, regt Lutz sich auf, als ich ihm und Luisa abends beim Spaghettiessen die ganze Geschichte erzähle.
»Bist du denn wirklich sicher?«, erkundigt sich Luisa, und ich nicke bestimmt. Und ob ich mir sicher bin. Das Ganze fügt sich nach und nach zu einem lückenlosen Bild zusammen. Benjamin fühlte sich durch meine Beförderung zum Manager übergangen, und als er erfuhr, wie schlecht es mir wegen Simon ging, witterte er seine Chance. Während er mich glauben ließ, in ihm einen Verbündeten zu haben, bereitete er ganz systematisch meinen Untergang vor.
»Ich hatte mich noch gewundert, dass er an diesem Freitag schon vor halb acht im Büro war. Er hat mir was von einer Ehekrise erzählt, aber in Wirklichkeit hat er die Präsentationsmappen ausgetauscht«, sage ich überzeugt. »Und direkt nach dem Meeting hat er mich mit sanfter Gewalt aus dem Büro geschmissen. Mich sogar dazu gebracht, meine Telefone auszuschalten. Und dann hat die Firma das ganze Wochenende nur meine Mailbox erreicht. Kein Wunder, dass Huber ausgerastet ist. Ich bin ein solcher Hornochse.« Kopfschüttelnd schiebe ich mir eine riesige Portion Nudeln in den Mund und kaue verbissen.
»Ich dachte, so was gibt es nur im Film«, meint Luisa mit kugelrunden Kinderaugen, und ich schüttele düster den Kopf.
»Nein, das ist das wahre Leben«, quetsche ich zwischen den Spagetti hindurch.
»Und was willst du jetzt tun?«
Kapitel 19
Es ist ein eigenartiges Gefühl, wieder hier zu sein. Lautlos öffnen sich die Türen des Fahrstuhls, und ich betrete die Räumlichkeiten von Wisenberg Consulting Hamburg. Der vertraute Duft von Bohnerwachs und Putzmittel steigt mir in die Nase, meine Absätze klackern über den Granitfußboden. Mit einer nervösen Bewegung streiche ich die Vorderseite meiner dunkelgrauen Kostümjacke glatt. Irgendwie fühle ich mich merkwürdig verkleidet in diesem Outfit, das noch vor wenigen Monaten meine tägliche Arbeitskleidung war. Wir haben Montagmorgen, und ich habe von Frau Sandner erfahren, dass Benjamin heute im Hamburger Büro arbeitet. Möglicherweise ist das Vereinsbank-Projekt schon abgeschlossen, und er bereitet sich hier auf einen neuen Kunden vor. Ich bin jedenfalls froh, dass ich für dieses Gespräch nicht nach München fliegen musste. Ich betrete den hohen, rundum verglasten Raum, in dem mehrere Schreibtische mit Trennwänden stehen. Nur wenige sind besetzt, dennoch verursacht mein Auftritt bei den paar Anwesenden einige Aufregung. Ich nicke grüßend und mit einem selbstbewussten Lächeln in die Runde und gehe zielstrebig auf Benjamins Platz zu.
»Guten Morgen«, sage ich freundlich. Er sieht auf und verliert für eine Zehntelsekunde die Kontrolle über seine Gesichtszüge. Wieso? Hat er ein schlechtes Gewissen? Nun, das alleine reicht wohl noch nicht zu einer Verurteilung, deshalb strecke ich ihm meine Hand entgegen. Er lächelt mich an und gibt mir sogar einen Kuss auf die Wange. Den Judaskuss?
»Vivi, was für eine Überraschung. Gut siehst du aus!«
»Danke.« Du nicht, füge ich in Gedanken hinzu, während ich in dem mir angebotenen Sessel ihm gegenüber Platz nehme. Und es stimmt, seine Gesichtshaut ist bleich,
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