Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
lieben Verwandtschaft zu erledigen. Weil Mama sich mittlerweile von Chrissy und ihrem Feng-Shui-Wahn hat anstecken lassen, rät sie mir, meine Wohnung gründlich auszumisten, um mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.
»Hör nicht auf deine Mutter, sie will sogar meine Tennisausrüstung wegschmeißen«, höre ich meinen Vater im Hintergrund rufen.
»Die hat er noch?«, frage ich erstaunt, denn so viel ich weiß, hat er vor zehn Jahren das letzte Mal den Schläger geschwungen.
»Eben, genau mein Reden«, sagt meine Mutter prompt.
»Deine Mutter würde am liebsten alle meine Klamotten wegwerfen, einschließlich derer, die ich am Leibe trage«, ruft mein Vater empört, und ich muss trotz meiner miserablen Laune kichern.
»Meinst du nicht, dass es für Simon und dich vielleicht noch eine Chance gibt?«, wechselt meine Mutter abrupt das Thema, und sofort ist der Anflug von Heiterkeit verschwunden.
»Nein, das meine ich nicht«, sage ich schwach. »Ich muss jetzt Schluss machen, Mama.«
»Na schön«, gibt meine Mutter erstaunlicherweise nach, »aber wenn ich dir noch einen Tipp geben darf?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Fang auf dem Dachboden an. Der steht für die Zukunft.« Ach was?
Nach diesem Telefonat versuche ich, Chrissy anzurufen, um ihr mein Leid zu klagen, doch im Hintergrund krakeelen meine beiden Nichten so laut, dass ich meine Bemühungen schnell aufgebe. Schließlich stapfe ich gehorsam die Treppe zum Dachboden hinauf, weil es ziemlich schwer ist, wegzuhören, wenn zwei Schauspieler mit abgeschlossener Stimmausbildung im Nebenzimmer Sex haben. Hier oben riecht es ein wenig muffig, die nackte Glühbirne unter der Decke spendet schummeriges Licht. Seufzend öffne ich die hölzerne Tür und möchte am liebsten gleich rückwärts wieder rausgehen. In meinem Verschlag stapeln sich mindestens zwanzig randvolle Umzugskisten. In die meisten habe ich seit Jahren nicht mehr reingeguckt. Was den Schluss zulässt, dass ich den Inhalt auch nicht wirklich vermisst habe. Oder? Vielleicht steckt hier wirklich eine Menge Energie fest, wie meine Mutter behauptet. Einen Versuch ist es wert. Ich greife nach dem erstbesten Karton und öffne ihn. Ach ja, mein Kram von »Wisenberg Consulting«, der mir zugeschickt wurde. Ich sehe ihn kurz durch, massig Papierkram, den ich nie wieder brauchen werde, ein paar BWL-Bücher, in Nullkommanix habe ich den größten Teil in der mitgebrachten Mülltüte versenkt. Dann schütte ich achselzuckend auch noch den Rest hinein. Dieses Kapitel ist doch längst abgehakt in meinem Leben, wozu sich damit belasten?
Da fällt mein Blick auf eine schwarze Mappe mit silbernem Schriftzug. Kopfschüttelnd nehme ich sie in die Hand. Meine Präsentation. Es versetzt mir noch immer einen leisen Stich, dass ich das damals so vermasselt habe. Andererseits kommt mir all das vor wie aus einem anderen Leben. Und angenommen, alles wäre nach Plan gelaufen, wo wäre ich dann heute? Ich würde weiterhin Sechzig-Stunden-Wochen arbeiten, wäre Lutz niemals begegnet, würde am Wochenende in eine kalte und leere Wohnung kommen, die Idee für Amors Wichtel wäre niemals entstanden. Ich versenke die Präsentation im Müllsack, stopfe mehrere Memos hinterher. Ganz unten im Karton liegt eine weitere Präsentationsmappe. Ach ja, ich hatte ja aus Versehen sieben statt sechs Mappen angefertigt. War wirklich ganz schön durch den Wind. Ich blättere ein wenig darin herum und stutze, als mein Blick auf die doppelt unterstrichene, sechsstellige Zahl am Ende des Dokuments fällt. Spinne ich jetzt, oder was? Ich wühle die zweite Präsentationsmappe aus der Plastiktüte wieder hervor und schlage die letzte Seite auf. Und dann wird mir plötzlich sehr schlecht.
Meine Gedanken rasen, während ich so schnell ich kann die Treppe zu meiner Wohnung hinunterlaufe, die beiden Präsentationsmappen mit den unterschiedlichen Zahlen fest an mich gepresst. Unten angekommen stürme ich ins Büro, fahre meinen Laptop hoch, öffne den Unterordner »Vereinsbankprojekt« und beiße mir vor lauter Spannung auf die Unterlippe. Meine Augen fliegen über den Bildschirm, während ich in Windeseile Seite für Seite durchscrolle und mein Verdacht sich bestätigt. Alle Zahlen sind korrekt, das Angebot einwandfrei. Schwer atmend lasse ich mich in meinem Bürosessel zurückfallen, starre auf den Monitor und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Die gute Nachricht: Ich habe keinen Fehler begangen. Die schlechte Nachricht: Irgendwer
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