Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Aufräumen wird mich zugleich erden und meine Nerven beruhigen, die beim Anblick des Mappenstapels schon wieder zu flattern beginnen. Ich zähle noch mal geschwind durch, sechs an der Zahl, und deponiere sie griffbereit auf dem kleinen Chromregal neben der Tür. Dann gehe ich ans Werk, trage Schicht um Schicht von meinem Schreibtisch ab. Memos, Notizzettel, Sitzungsprotokolle. Mehr als neunzig Prozent des Papierkrams ist längst erledigt und landet nach kurzem Überfliegen im Mülleimer. Den Rest lege ich in den dazugehörigen Aktenordnern ab. So habe ich bereits den kompletten linken Stapel abgearbeitet und wende mich nun der rechten Seite zu. Nanu. Ich stutze und ziehe eine weitere Präsentationsmappe hervor, die halb unter einem verrutschten Berg ausgedruckter E-Mails herauslugt. Hä? Das verstehe ich nicht. Ich kontrolliere noch mal meinen bereitliegenden Stapel und zähle erneut sechs Mappen. Kopfschüttelnd verstaue ich das überzählige Exemplar in der obersten Schublade meines Schreibtisches. Ich muss mich wirklich besser konzentrieren. Schließlich jongliere ich hier mit sechsstelligen Beträgen, da ist es kein gutes Zeichen, wenn man nicht mal bis sechs zählen kann. Mein Blick gleitet über die freie Hälfte des Tisches. Dann über die andere Seite. Gerade will ich mich wieder in die Arbeit stürzen, als mein Blackberry durch ein Piepsen die Ankunft einer SMS verkündet. Sie ist von Simon. Meine Hand beginnt unkontrolliert zu zittern. Simon hat mir eine SMS geschrieben. Und das, nachdem ich in dieser Woche mindestens zwanzig Mal versucht habe, ihn anzurufen.
»LIEBE VIVI, ENTSCHULDIGE, WENN ICH STÖRE, ABER ICH HABE MEINE SKIER AUF DEM SPEICHER VERGESSEN. KÖNNTE ICH SIE AM WOCHENENDE ABHOLEN? DANKE, LIEBER GRUSS, SIMON.«
Ungläubig starre ich auf die Nachricht, die vor meinen Augen verschwimmt. Skier? Seine verdammten Skier will er haben? Auch wenn nur Bruchteile von Sekunden vergangen sind, bis ich die SMS in meinem Telefon geöffnet habe, so liefen vor meinem inneren Auge doch sofort die unterschiedlichsten Szenarien ab. Ich könnte mich ohrfeigen. Was bin ich doch für eine einfältige Kuh! Habe ich allen Ernstes angenommen, dass er zu mir zurückkommen will? Habe ich eine Liebeserklärung erwartet? Ehrlich gesagt, ja. Und das macht die Erkenntnis, dass er seine Skier zurückhaben will, um so bitterer. Wieder und wieder fliegen meine Augen über die wenigen Zeilen. Analysieren sie, obwohl mir klar ist, dass jetzt, fünf Minuten vor meiner Präsentation, nicht der richtige Zeitpunkt ist, sich mit dieser Sache zu befassen. Später, später, ruft eine innere Stimme mir zu, leg das Ding weg, konzentriere dich. Aber ich kann nicht. Ohne es zu wollen, ziehe ich Schlussfolgerungen: Simon will seine Skier, das heißt, er wird in absehbarer Zeit Skiurlaub machen. Die Frage ist, mit wem? Aber was noch mehr wehtut, ist die Art und Weise, in der die SMS formuliert ist. Nicht nur höflich, nein. Freundschaftlich! Das ist der wahre Dolchstoß in mein Herz. Keine Kränkung, kein Schmerz ist ihm anzumerken durch seine Worte.
»Guten Morgen«, wünscht mir Stefan in diesem Moment und streckt den Kopf zur Türe herein. Fassungslos sieht er auf meinen ordentlichen Schreibtisch. »Wow. Übrigens, es ist gleich neun.«
»Ja, danke.« Betäubt stehe ich auf, streiche den Rock meines Kostüms mit einer fahrigen Handbewegung glatt.
»Alles in Ordnung?«, erkundigt sich Stefan, und ich nicke mechanisch mit dem Kopf. Dann klemme ich den bereitgelegten Stapel unter meinen Arm und atme tief durch.
Während ich durch den langen, mit modernen Gemälden ausgestatteten Gang laufe, werde ich den Anblick von Simons SMS nicht los. Es ist, als hätten sich die Lettern in Leuchtschrift auf meine Netzhaut gebrannt. »LIEBE VIVI«, flackert es vor meinen Augen. »LIEBER GRUSS.« Was fällt dem ein? Plötzlich spüre ich eine unbändige Wut in meinem Bauch. Wieso schreibt er, kaum eine Woche nach unserer Trennung, eine SMS mit der Begrüßung »liebe Vivi«? Ein kurzes, beleidigtes: ICH BRAUCHE MEINE SKIER, wäre verständlich gewesen, mit einem gekränkten VIVIANE und einem vorwurfsvollen Ausrufezeichen dahinter vielleicht. Plötzlich ist mir glasklar, was der eigentliche Inhalt der Textmitteilung ist:
LIEBE VIVI, GUCK MAL, WIE GUT ES MIR GEHT. ES GEHT MIR BLENDEND. ICH BIN LÄNGST WEG ÜBER DICH, DER SCHMERZ ÜBER DIE KAPUTTE BEZIEHUNG LIEGT GANZ AUF DEINER SEITE, LIEBE VIVI. VON MIR AUS KÖNNEN WIR, DU, LIEBE VIVI, UND ICH, LIEBER
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