Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Wahrscheinlich will er, dass ich den ersten Schritt mache. Na schön. Ich beuge mich einen Millimeter in seine Richtung. Dann noch einen. Und noch einen. Nichts passiert. Schließlich hänge ich ziemlich windschief auf meinem Barhocker, die Hände immer noch um die Kaffeetasse geklammert, aber Simon kommt mir nicht entgegen. Er schaut einfach nur. Manno, wieso macht er es mir denn so schrecklich schwer? Ich begreife das nicht. Also gut, dann lege ich eben meinen Kopf ein wenig schief und öffne ganz leicht die Lippen. Wieder nichts. Er will tatsächlich, dass ich die ganze Strecke gehe, kommt mir nicht eine Winzigkeit entgegen. Aber mein Verlangen nach seinen weichen Lippen, so nah vor meinen, ist jetzt so groß, dass ich mich nicht einmal frage, warum er das tut. Ich will jetzt geküsst werden, alles in mir schreit danach. Mit einer schnellen Bewegung bringe ich die letzten zehn Zentimeter hinter mich und presse meine Lippen auf Simons, die nach Kaffee und Labello schmecken.
»Hmmmpfh«, macht er.
»Hmmm«, schnurre ich mit geschlossenen Augen. Jetzt legt er seine Hände an mein Gesicht, doch statt mich noch inniger zu küssen, hält er meinen Kopf fest und lehnt sich ein Stück zurück. Sieht mich an. »Hmmm«, säusele ich erneut und schließe wieder sehnsuchtsvoll die Augen. Mir war nicht klar, wie sehr ich Simon tatsächlich vermisst habe. Bis eben jedenfalls nicht.
»Vivi, bitte mach die Augen auf«, sagt er leise, und ich hebe die Lider. »Vivi …« Es klingt irgendwie gequält. »Wieso machst du das? Ich habe dir doch von Laura erzählt.« Rumms! In diesem Moment kippe ich mitsamt meinem Barhocker nach vorne. Im Fallen kralle ich mich an Simons Pullover fest und reiße ihn mit zu Boden. Mit einem harten Aufschlag lande ich auf den Fliesen, Simon hat mehr Glück, denn er fällt auf mich und damit eindeutig weicher.
»Aaaauu«, wimmere ich. Ich habe eindeutig etwas krachen gehört. Bestimmt war es eine meiner Rippen. Vielleicht war es auch das Herz. Nun wirft Simon sich schützend über mich, weil nun auch sein Hocker umkippt und ohne seinen heldenhaften Einsatz genau auf meinem Kopf gelandet wäre. Stattdessen liegt Simon jetzt mit seinem vollen Körpergewicht auf mir, und ich gebe nur noch ein leises Röcheln von mir.
»Bist du okay?«, fragt er mich besorgt und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wütend sehe ich ihn an. Jetzt braucht er auch nicht mehr zu versuchen, an mir herumzutatschen. Plötzlich schießen mir vor Wut und Demütigung die Tränen in die Augen. Gerade als ich ihn von mir herunterschmeißen will, höre ich im Flur eine wohlbekannte Stimme:
»Vivi, tut mir Leid, es hat länger gedauert, als ich … Was ist denn hier los?« Oh nein, der hat mir gerade noch gefehlt. Mühsam hebe ich den Kopf und sehe Lutz in der Wohnzimmertür stehen und irritiert auf uns herabsehen. Wie sieht der denn aus? Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Er trägt einen grauen Nadelstreifenanzug, in dem sein breites Kreuz geradezu imposant erscheint, und dazu ein blaues Hemd mit gelber Krawatte. Gerade will ich ihn fragen, was die Maskerade soll, als mir plötzlich wieder einfällt, dass das heutige Casting für einen Commerzbank-Werbespot war. Simon hat sich jetzt ebenfalls zu Lutz umgewandt und macht ein selten dämliches Gesicht. Dann rappelt er sich so hektisch auf, dass er mir dabei sein Knie in den Oberschenkel rammt.
»Au, pass doch auf«, herrsche ich ihn an und boxe ihm auf den Oberarm. Nicht fest genug für all das Leid, das er mir angetan hat. Nicht mal fest genug für das Leid, das er mir alleine heute angetan hat. Aber doch fest genug, dass er erschrocken zusammenzuckt und mit leidendem Gesichtsausdruck über besagte Stelle reibt.
»Autsch.« Geschieht ihm ganz recht. Jetzt wendet er sich an Lutz, der noch immer mit offenem Mund im Raum steht. »Du musst, ich meine, Sie müssen Lutz sein, hallo.« Damit geht er auf ihn zu und reicht ihm die Hand, die dieser schüttelt. »Ich bin Simon.«
»Ach, dein Ex«, schlussfolgert Lutz messerscharf, und ich nicke griesgrämig, während ich mich vom Boden aufrappele. »Soll ich dann vielleicht …« Er macht eine vage Handbewegung in Richtung Wohnungstür. »Ich meine, wenn ich irgendwie störe?«
»Sie stören bei nichts, bei absolut gar nichts«, beeilt sich Simon zu beteuern und schüttelt dabei heftig den Kopf. »Wirklich, das war nicht, wonach es aussah, ich meine, Viviane ist vom Barhocker gestürzt und hat mich mit sich zu Boden gerissen,
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