Mit Fünfen ist man kinderreich
Fußballweltmeisterschaft und warf alle strategischen Planungen über den Haufen. Die Zeitverschiebung zwischen Mexiko und Deutschland brachte den ohnehin schon gestörten Tagesablauf restlos durcheinander, denn die Fernsehübertragungen fanden zu den unmöglichsten Zeiten statt und boten speziell den Knaben willkommene Ausreden, sich vor Hilfsdiensten zu drücken. Sie lagen stundenlang vor dem Fernseher auf dem Fußboden – mitunter beköstigten sie sich auch auf demselben – und waren nicht ansprechbar. Mein Desinteresse an Fußball im allgemeinen und an der Weltmeisterschaft im besonderen quittierten sie mit dem gleichen nachsichtigen Lächeln, mit dem sie auch meine Abneigung gegen Elvis Presley und Bill Haley tolerierten. Dabei bin ich wirklich kein Sportmuffel! Ich spiele gern Tennis, kann mich für Eishockey begeistern und versäume nach Möglichkeit keine Übertragung von Skiwettbewerben. Aber für Fußball habe ich nichts übrig.
Wenzel-Berta war der gleichen Meinung. »Wie können erwachsene Männer bloß so kindisch sein und sich wie Halbwüchsige um einen Ball schlagen. Aber mein Eugen is ja auch ganz verrückt nach diese Weltmeisterschaft, und nu is gestern der Apparat kaputtgegangen. Kann er heute abend bei Ihnen gucken?«
»Aber selbstverständlich.«
»Er könnte ja auch in den ›Löwen‹ gehen, aber die saufen da immer so viel, und denn singt er mir wieder die halbe Nacht!«
Pünktlich um 20.45 Uhr stand Eugen vor der Tür. Wenzel-Berta übrigens auch, sie wollte sich noch das Rezept von der Zitronencreme abschreiben. Eugen wurde in einen Sessel komplimentiert, stand aber wieder auf, um die Mannschaftsaufstellung aus der Jackentasche zu holen. »Wenn wir nu heute gewinnen…«
Der Rest ging in der ZDF-Fanfare unter. Sascha kaute geräuschvoll Kartoffelchips. Rolf entkorkte nicht minder geräuschvoll eine Weinflasche.
»Eugen, wo is denn meine Brille? Ich kann doch ohne Brille nichts sehen.« Wenzel-Berta durchforschte vergeblich ihre Tasche.
Eugen hörte nichts. Er verglich noch einmal die auf dem Bildschirm erschienenen Namen mit seiner Liste.
»Aber ich hatte die Brille ganz bestimmt mit, die muß doch…«
»Pssst!«
Die Brille wurde gefunden. Auf dem Küchentisch neben dem Kochrezept. Wenzel-Berta war beruhigt und holte ihr Strickzeug hervor. Der Ärmel sollte heute noch fertig werden.
Das Spiel wurde angepfiffen, und damit begann ein für mich immer noch völlig unverständlicher Dialog zwischen den Männern. ›Aus‹ und ›Abseits‹ und ›Steilpaß‹ und ›Dribling‹.
»Warum werfen sie denn dauernd den Ball mit den Händen? Ich denke, das darf man nicht?«
Sascha belehrte mich gönnerhaft, daß es sich hierbei um einen Einwurf handele. Aha!
Plötzlich Geschrei: »Tooor!« Schade, ausgerechnet in diesem Augenblick hatte ich ein Stück Kork aus dem Weinglas gefischt.
»Wer hat denn das Tor geschossen?«
»Das war der Netzer, Berta.«
»Gehört der zu den Holländern?«
»Aber Berta, wir spielen doch jetzt nu gegen die Schotten, und Netzer ist natürlich unser Mann.«
»Na, denn isses ja gut. Eugen, gib doch mal deinen Arm her, ich glaube, ich kann jetzt abnehmen.«
»Du, Papi, wenn eine Scheune 17,80 m lang ist und 8,50 m hoch und im hinteren Drittel 6 m, wieviel Kubikmeter hat sie dann?« Sven erschien mit dem Rechenbuch unter dem Arm. Er hatte trotz väterlicher Anordnung seine Hausaufgaben nicht rechtzeitig erledigt und war in einer Anwandlung patriarchalischen Verhaltens in sein Zimmer verbannt worden. Trotzdem hatte er sich nicht nach dem Spielstand erkundigt. Anscheinend hörte er Radio.
»Also wie ist das nun mit der Scheune?«
Rolf, sonst nicht abgeneigt, seinem Sproß bei den mathematischen Gehversuchen Hilfestellung zu leisten, wurde ärgerlich.
»Paß doch in der Schule besser auf, dann brauchst du nicht zu fragen!«
»Ich krieg's aber nicht raus.«
»Dann warte bis zur Halbzeit!«
Sven zog maulend wieder ab. Eine Zeitlang herrschte Ruhe. Dann ein langanhaltender Pfiff. Halbzeit! Ich sammelte die überquellenden Aschenbecher ein, Sascha wechselte von der horizontalen in die vertikale Position, und Wenzel-Berta zählte Maschen.
»Papi, kannst du jetzt mal…«
Papa hörte nicht. Er setzte Eugen gerade auseinander, daß wir nun ganz berechtigte Chancen hätten, ins Endspiel zu kommen. Ich erbarmte mich der Scheune und errechnete eine Kubikmeterzahl, die ungefähr dem Volumen der Londoner Royal-Albert-Hall entsprach.
»Das stimmt doch nie!«
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