Mit Haut und Haar: 6. Fall mit Tempe Brennan
einem offenen Ohr für seltsame Geräusche.
Am Samstag überredete Katy mich zu einem spätabendlichen Besuch im Amo’s, wo wir uns eine Band namens Weekend Excursion anhörten. Die Gruppe war schlagkräftig, talentiert und vermutlich laut genug, um von Instrumenten in der Wüste registriert zu werden, die nach Signalen außerirdischen Lebens lauschten. Die Leute standen da und hörten gebannt zu. Irgendwann schrie ich Katy eine Frage ins Ohr:
»Warum tanzt denn niemand?«
»Ein paar Langweiler tun’s vielleicht noch.«
Der alte ABBA-Song »Dancing Queen« fiel mir ein.
Die Zeiten ändern sich.
Nach dem Amo’s gingen wir noch auf einen Drink in einen Pub gleich nebenan mit dem Namen Gin Mill. Perrier mit Limone für mich, einen Grey Goose Martini für Katy. Pur. Die volle Dröhnung. Mit Oliven. Meine Tochter war jetzt ein großes Mädchen, kein Zweifel.
Am Sonntag gab’s Mutter-Tochter-Vertraulichkeit mit Maniküre und Pediküre. Danach schlugen wir ein paar Golfbälle auf der Driving Range im Carmel Country Club.
Katy war ein Star im Carmel-Schwimmclub gewesen, hatte schon mit vier Jahren an einer Sicherheitsleine hängend ihre erste Bahn gekrault. Sie war auf Carmels Golf- und Tennisplätzen aufgewachsen, hatte auf seinen Rasenflächen Ostereier gesucht und die Feuerwerke zum Vierten Juli bestaunt.
Pete und ich hatten uns im Carmel an Büffets gelabt, an Silvester unter blinkenden Kristallkugeln getanzt, Champagner getrunken, Eisskulpturen bewundert. Viele unserer engsten Freunde hatten wir im Club kennen gelernt.
Obwohl ich von Rechts wegen noch verheiratet war, was mir die Nutzung aller Einrichtungen des Clubs ermöglichte, fühlte ich mich fremd dort, als würde ich einen schon fast vergessenen Ort besuchen. Die Leute, die ich dort sah, waren wie Visionen aus einem Traum, bekannt, und doch weit weg.
An diesem Abend bestellten Katy und ich Pizza und schauten uns Meine Braut, ihr Vater und ich an. Ich fragte nicht, ob ihre Filmauswahl irgendeine Bedeutung hatte. Auch fragte ich nicht, was Palmer Cousins an diesem Wochenende machte.
Am Montagmorgen stand ich früh auf und ging meine E-Mails durch.
Noch immer keine Fotos von Cagle und keine Nachrichten vom Sensenmann.
Nach einer Runde um den Block mit Boyd fuhr ich zum MCME und war mir ganz sicher, dass Cagles Bericht auf meinem Schreibtisch liegen würde.
Kein Fax.
Bis halb zehn hatte ich Cagles diverse Nummern viermal angerufen. Der Professor meldete sich einfach nicht.
Als um zehn das Telefon klingelte, wäre ich beinahe aus der Haut gefahren.
»Schätze, Sie haben es schon gehört.«
»Was gehört?«
Slidell blieb die Enttäuschung in meiner Stimme nicht verborgen.
»Was ist? Haben Sie einen Anruf von Sting erwartet?«
»Ich hatte gehofft, es wäre Wally Cagle.«
»Warten Sie noch immer auf diesen Bericht?«
»Ja.« Ich wickelte mir die Spiralen des Kabels um den Finger.
»Schon komisch. Cagle sagte, er würde ihn mir am Donnerstag faxen.«
»Walter.« Slidell dehnte den Namen auf drei Silben.
»Das war vor vier Tagen.«
»Vielleicht hat er sich beim Strumpfhosenanziehen verletzt.«
»Vielleicht sollten Sie mal in eine Selbsthilfegruppe für Homophobe gehen.«
»Hören Sie, so wie ich es sehe, sind Männer Männer und Frauen Frauen, und jeder sollte in dem Zelt schlafen, in dem er geboren wurde. Wenn man anfängt, Grenzen zu überschreiten, dann weiß irgendwann keiner mehr, wo er seine Unterwäsche kaufen soll.«
Ich sagte nichts zu den diversen bildlichen Grenzen, die Slidell eben überschritten hatte.
»Außerdem wollte Cagle die Fotos der Knochen einscannen und mir per E-Mail schicken«, sagte ich.
»O Mann, immer dieses E-Mail. Wenn Sie mich fragen, E-Mail ist so ’ne Art Voodoo-Zauber.«
Ich hörte Slidells Stuhl unter dem Gewicht seines Hinterns ächzen.
»Wenn Aiker nicht in Frage kommt, was ist dann mit dem anderen Beamten?«
»Anderes Zelt.«
»Was?«
»Der andere FWS-Beamte war weiblich.«
»Vielleicht haben Sie sich bei den Knochen geirrt.«
Nicht schlecht, Skinny.
»Bei den Überresten aus dem Klo ist das möglich, bei dem Lancaster-Skelett nicht.«
»Warum das?«
»Cagle hat einen DNS-Test von einer Knochenprobe machen lassen. Der Amelogenin-Befund sagt: Männlich.«
»Geht das schon wieder los. Die schwarzen Künste.«
Ich ließ ihn eine Weile meinem Schweigen lauschen.
»Sind Sie noch dran?«
»Soll ich Ihnen Amelogenin erklären, oder wollen Sie lieber im neunzehnten Jahrhundert
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