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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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Boden.
»Und das ist die Kleine?«, fragt er. »Wie heißt sie denn?«
    »Ein Junge«, sagt Sylvie. »Und er heißt Jonathan.«
    »Die schönsten Jungen sehen aus wie Mädchen«, erklärt Jason.
    Er legt Jonathan die Hand auf den Kopf. Der Junge schaut ihn an.
    »Lea«, sagt ihr Mann, »hast du unseren Gästen die Wohnung schon gezeigt?
Hattet ihr schon eine Führung? Nicht, dass es viel zu sehen gäbe. Ein Studier- und
ein Kinderzimmer. Ein winziges Gästezimmer, momentan eher unsere Abstellkammer.
Das Schlafzimmer überspringen wir mal, da ist zu viel Chaos.«
    Und wieder lacht er. So viel lacht er sonst nie. Er scheint wirklich
glücklich zu sein.
    »Lea, hörst du?«, fragt ihr Mann. »Hast du unseren Gästen schon die Wohnung
gezeigt?«
    »Noch nicht«, sagt sie. Jason geht auf den Flur, um [384]  seinen Mantel
aufzuhängen und den Aktenkoffer abzustellen, so wie immer.
Er ist ein Gewohnheitstier. Sie weiß genau, was er tut, auch wenn sie ihn nicht
sieht.
    Als er wieder zurückkommt, steht Lea noch immer unschlüssig da. Sie fragt
sich, ob dieses Dinner wirklich eine gute Idee war, aber vor allem, und das ist
jetzt die dringendste Frage, ob sie noch einen Moment weiter Oliven knabbern oder
gleich zum Essen übergehen sollen.
    In Gedanken versunken, geht sie in die Küche und holt aus dem Schrank
das Plastikgeschirr für die Kinder.
    Ihr Handy liegt auf der Anrichte. Flüchtig schaut sie auf das Display.
Eine SMS von Durano: »Hast du meine E-Mail bekommen?«,
will er wissen.
    8
    »Wie findest du sie?«, fragt Roland
Sylvie flüsternd.
    Sie haben zu Ende gegessen, Lea liest den Kindern auf ihrem Zimmer die
Gutenachtgeschichte vor, und Jonathan hat sich neben sie aufs Bett gesetzt, obwohl
er kein Englisch versteht und also auch nicht mitbekommt, was Lea vorliest. Vielleicht
macht es ihm einfach nur Spaß, sich mit den anderen zusammen die Bilder anzusehen.
    Sylvie hat ins Kinderzimmer gespäht und Roland für alle Fälle beruhigt:
»Jonathan hält sich hervorragend.«
    Jetzt sitzen sie allein am Esstisch und mustern die Einrichtung.
    [385]  Vor dem Essen haben sie noch eine kleine Führung durch die Wohnung
bekommen, bei der Jason Ranzenhofer von seiner Karriere erzählte.
    Jason ist in der Küche. Was er dort tut, ist Roland nicht klar.
    Die Glasschälchen, in denen Lea das selbstgemachte Kokoseis serviert
hat, stehen noch auf dem Tisch.
    »Ich weiß nicht«, antwortet Sylvie ebenso flüsternd.
»Sie erinnert mich an eine Freundin. Chaotisch. Keine klaren Konturen, als könnte
man durch sie hindurchsehen.«
    »Aber die Kinder sind nett, nicht?«
    Seine Ex antwortet nicht. Er selbst mochte vor allem das Mädchen, der
Junge erinnerte ihn sehr an den Vater. Das gleiche Gesicht, der gleiche prüfende
Blick.
    Leas Mann kommt mit zwei Flaschen aus der Küche zurück.
    »Normalerweise trinke ich nicht«, sagt er, »aber wenn Gäste da sind,
finde ich einen kleinen Cognac ganz lecker. Wir haben
auch was Italienisches da. Grappa.«
    Er lacht jovial.
    Die Flaschen werden auf den Tisch gestellt. Höflichkeitshalber studiert
Roland die Etiketten. Kurz denkt er an Violet. Ob gerade ein anderer Mann in ihr
ist?
    Aus dem Kinderzimmer kommt Lea, Jonathan hinter ihr drein. Ohne etwas
zu sagen, setzt sie sich neben ihren Mann und legt den Arm um ihn. Jonathan kriecht
bei Sylvie auf den Schoß.
    »Lea, ich sagte gerade, wenn Gäste da sind, lassen wir uns ganz gern
zu einem Verdauungsschnäpschen verführen, nicht wahr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, [386]  wendet er sich an Sylvie, während er die Cognacflasche
öffnet: »Lea beschäftigt sich
von morgens bis abends mit Völkermord, ein Wunder, dass sie dabei so gute Laune
behält.«
    Jason steht auf und holt Cognacgläser aus der Küche, in einem fort weitererzählend.
»Ich kann von Völkermord nicht schlafen, ich sehe die Bilder die ganze Zeit vor
mir. Kriegsfilme sind auch nichts für mich.«
    Die Gläser werden auf den Tisch gestellt, der Cognac eingeschenkt. Als
er Roland sein Glas überreicht, legt Jason ihm kurz die Hand auf die Schulter.
    »Für mich bitte nicht«, sagt Lea.
    »Das Kokoseis war köstlich«, bemerkt Roland, »machst du das öfter?«
    »Nur ab und zu, wenn ich in Stimmung bin.« Lea hält sich an ihrem Mann
fest, als würde sie von ihrem Stuhl fallen, sobald sie ihn loslässt.
    »Und du, Roland«, fragt Jason, während er die Krawatte lockert, »was
treibst du noch so mit meiner Frau, außer lunchen?«
    »Hauptsächlich lunchen«, antwortet Roland,

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