Mit Haut und Haaren
gar nicht, ich bekomme das Gefühl, dass ich lebe. Mehr als sonst.«
Kein Broker aus London, sondern ein Satellitentelefonhändler. Er hatte
sein Bild korrigieren müssen. Jetzt war es der Telefonhändler, den er vor sich sah,
der mit der Hand zwischen Violets Beinen verschwand und ihr drei Finger hineinschob.
Immer hatte er sich nach einem Feind gesehnt. Endlich hatte er einen.
Ihm so nah, fast vertraut.
»Er ist zärtlich«, hatte sie gesagt. »Viel
behutsamer als du.«
Als ihre Beichte zu Ende war, er das Gefühl hatte, den Telefonhändler
persönlich zu kennen, ja bei ihm zu Hause gewesen zu sein, sagte Roland: »Du musst
dir selber verzeihen.«
[436] »Nein, das musst du tun.«
»Ich habe dir schon verziehen.« Er war aufgestanden, hatte ihr Glas genommen
und es noch mal gefüllt.
»Zur Vergebung gehört Strafe.«
Kurz hatte er ihre Schulter berührt und dann The Economy
of Love and Fear von Kenneth Boulding gesucht. »Zum Vergeben muss man verzeihen«,
hatte er erwidert.
»Aber vor Vergebung kommt Strafe«, sagte sie. »Ohne Strafe keine Gerechtigkeit.
Ohne Strafe kein Leben.«
Er konnte The Economy of Love and Fear nicht
mehr finden. »Du willst also, dass ich dich bestrafe?«,
fragte er, in Gedanken versunken. Er stand hinter ihr, legte ihr beide Hände auf
die Schultern. »Zieh erst einmal deine Jacke aus. Und holen wir Meneer Bär aus der
Tasche. Er steckt schon so lange da drin. Er erstickt fast.«
25
Lea lässt Anca herein. Zu guter Letzt musste sie auf sie zurückgreifen.
Sonst war an diesem Abend niemand zu finden. Jason hatte
sie zu einer Wahlparty mitnehmen wollen, aber sie hat eine Verabredung, und er hatte
gesagt – was sie ein wenig erstaunte, denn so viele Wahlabende gibt es ja nicht –, dass er sie verstehe, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, dass er auch
alleine zurechtkomme.
»Ich bin vor Mitternacht zurück«, sagt sie zu Anca. »Und du hast doch
meine Nummer für Notfälle?«
[437] Wieder trägt die junge Frau einen grauen Pullover, diesmal jedoch
mit V-Ausschnitt. Wenn sie sich vorbeugt, schaut man direkt in ihr beachtliches
Dekolleté. Als wisse sie, dass sie nicht viel mehr zu bieten hat als ihre gigantischen
Brüste.
Lea trägt dasselbe Kleid wie an dem Abend, als sie sich mit Roland zum
ersten Mal verabredet hatte.
»Die Kinder haben schon gegessen«, sagt sie, »wenn sie noch mal Hunger
bekommen, kannst du ihnen Joghurt geben. Er steht im Kühlschrank. Sie sind schon
im Pyjama. Lies ihnen was vor, dann schlafen sie im Handumdrehen ein.«
Sie geht ins Kinderzimmer.
»Anca ist da«, sagt sie und muss dabei an deren osteuropäischen Akzent
denken.
Die Kinder bauen einen Turm aus Bauklötzen.
»Wer ist Anca?«, fragt Gabe.
»Sie bleibt heute Abend bei euch«, sagt Lea.
Sie küsst erst ihren Sohn, dann ihre Tochter, streichelt ihr über die
Locken, will sich eigentlich umdrehen und in ihrem schicken Kleid aus dem Haus gehen,
streichelt dann aber mechanisch weiter. Ihr Großvater macht ihr immer größere Sorgen.
Ihre Mutter scheint nichts unternehmen zu wollen, eins aber weiß Lea inzwischen
ganz sicher: Sie muss ihren Großvater von seinem Leiden erlösen.
[438] 26
Der Laden in der Christopher Street ist einfach zu finden. In ihren neuen Schuhen – blaugrünen Stiefeln von United
Nude – schlendert Violet neben Roland daher. Er hat im Internet nachgesehen und
die Adresse auf der Rückseite einer Visitenkarte notiert. Er hatte reagiert, wie
Violet es erwartet hatte: distanziert, ohne allzu große Gemütsregungen. Nur für
einen kurzen Moment hatte er überrumpelt gewirkt. Er hatte gefasster gesprochen,
als sie es sich im Flugzeug vorgestellt hatte. Fast sanft war
er gewesen, gerührt, und hatte gesagt, sie müsse sich selber verzeihen. Doch sich
selber verzeihen will sie nicht. Das muss er tun.
»Fragst du den Verkäufer?«, sagt er im Laden zu ihr.
Typisch. Selbst hier muss sie das wieder mal übernehmen. Männer wollen
nie jemanden ansprechen; auch wenn sie sich verlaufen haben, suchen sie lieber drei
Stunden lang selbst und starren in ihren Stadtplan.
Man schickt sie in den Keller. Die Auswahl ist groß, größer, als sie
gedacht hatte.
»Hast du irgendeine Vorstellung?«, fragt Violet.
»Nein«, antwortet Roland. »Such du dir was aus. Ich versteh davon nichts.«
Sie nimmt eine Peitsche vom Haken und gibt sie ihm. Er lässt sie durch
die Luft sausen.
»Es ist eine Reitpeitsche, kein Tennisschläger«, sagt sie.
»Ich bin nie geritten,
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