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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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pro Jahr in den Niederlanden verbringe, wolle die Universität das gerne
ermöglichen. Selbst von einer »Rückkehrgarantie« war die Rede gewesen.
    Eigentlich sollte es auch in der Liebe eine Rückkehrgarantie geben.
    Roland Oberstein nähert sich dem Gebäude, wo man ihn erwartet. Davor
sitzen Studenten auf einer Mauer. Dieses Herumhängen ist er nicht mehr gewöhnt.
An der George Mason hängt niemand herum.
    Zum Mann am Empfang sagt er: »Ich suche den
Coffeeshop.«
    »Sie meinen die Cafeteria?«
    Oberstein schaut auf den Zettel, auf dem er sich alles notiert hat, doch
darauf steht nur: »Coffeeshop, 11:00 Uhr, Treffen mit Slachter.«
    »Den Coffeeshop«, wiederholt er.
    »Sie meinen die Cafeteria«, erwidert der Pförtner. »Wir haben mehrere.
Welche suchen Sie?«
    »Ich schau mich selber mal um«, antwortet Roland.
    In einer Plastiktüte hat er die Economic Origins of
Dictatorship and Genocide. Allenfalls ein nettes Geschenk für den neuen Kollegen.
Sie kennen sich nicht, aber vielleicht interessiert sich Slachter für Obersteins
Werk.
    Gleich in der ersten Cafeteria hat er Glück.
    Ein Mann tippt ihm auf die Schulter. »Roland
Oberstein?«
    »Ja«, antwortet Roland, »der bin ich.«
    [461]  »Erik Slachter«, stellt sich der Mann vor.
    Er ist etwa im selben Alter wie Roland, vielleicht etwas älter, kurzes
Haar, freundlicher Blick.
    »Schön, Sie kennenzulernen«, beginnt Oberstein.
    »Wollen wir uns nicht duzen?«
    »In Ordnung.«
    Slachter führt Oberstein an einen Tisch weiter hinten. Er holt ihm Kaffee, selbst trinkt er nichts.
    »Möchtest du etwas essen?«, fragt er. »Die Croissants hier sind lecker.«
    »Nein danke«, antwortet Oberstein. Er fragt sich, ob das der richtige
Moment ist, dem anderen sein Buch zu verehren, und wartet lieber noch etwas.
    Er schaut Slachter an, der ihm gegenüber Platz genommen hat. Er ist hergekommen,
um den anderen kennenzulernen, doch nach seinem Dafürhalten liegt die Initiative
jetzt nicht bei ihm.
    »Schön, dass du uns verstärken kommst«, sagt der Kollege nach ein paar
langen Sekunden. »Natürlich sind wir keine eigene Fakultät. Wie du weißt, gehören
wir zu den Juristen. Die meisten Studenten belegen nur die Pflichtveranstaltungen. Sobald sie Wirtschaftswissenschaft nicht mehr brauchen,
hören sie damit auf. Mach dir keine Illusionen.«
    »Ich mache mir nie Illusionen«, antwortet Roland und nimmt einen Schluck
Kaffee.
    »Manchmal hab ich Studenten«, fährt Slachter unbekümmert fort, »die müssten
eigentlich durchfallen, und denen sag ich dann immer: ›Wenn du mir versprichst,
nie mehr im Leben irgendwas mit Wirtschaftswissenschaften [462]  zu machen, geb ich dir sechs Punkte.‹ Versuch, es ein
bisschen so anzugehen. Wichtig ist die ›Bestanden‹-Statistik.«
    »Oh«, sagt Roland verblüfft. Doch eigentlich
betrachtet er ja die Lehre genauso: ein Nebenschauplatz. Was ihn wirklich interessiert,
ist seine Forschung. Die Geschichte der Spekulationsblasen, die ihn jetzt seit circa
zehn Jahren begleitet. Wohin er auch geht, wo er auch steht, sie folgt ihm auf Schritt
und Tritt.
    »Mein Spezialgebiet ist Fiskalpolitik, aber eigentlich macht jeder hier
alles. Wir sind eine so kleine Fachgruppe. Natürlich gibt es auch Studenten, die
sich wirklich für Wirtschaftswissenschaft interessieren, jedes Jahr wählen so ungefähr fünf oder sechs
Rechtsökonomie, aber verlass dich nicht auf die paar Spezialisten. Die meisten sind
hier, weil sie müssen. Verschwende keine Energie mit großen Begeisterungsversuchen,
das frustriert nur. Schlepp sie irgendwie durch, damit sie ihren Schein kriegen.
Denk an das Ergebnis.«
    »Oh«, sagt Roland zum zweiten Mal.
    »Du vertrittst Mevrouw Vermaes – Ilse Vermaes, nette Kollegin, schade,
dass du sie nicht mehr getroffen hast. Jetzt sitzt sie
zu Hause, hochschwanger. Am Anfang war sie sehr ehrgeizig, doch schließlich hat
ihr Ehrgeiz in der Fortpflanzung ein natürliches Ventil
gefunden. Na ja, eigentlich brauchst du einfach nur weiterzumachen, wo Ilse aufgehört
hat.«
    »Wo Mevrouw Vermaes aufgehört hat«, resümiert Roland.
    Slachter nickt.
    »Und auch sonst geht’s hier in Leiden eher locker und gemütlich zu. Anders
als in Rotterdam. Da warst du doch [463]  auch eine Zeitlang? Ich hab mal eine Geschichte
von einem Professor gehört, der einen Dozenten nicht leiden konnte. Eines Tages
kam der aus dem Urlaub und konnte nicht mehr in sein Büro. Sein Schreibtisch, die
Bücher – all seine Sachen standen auf dem Flur. Er hat

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