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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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schaut sie ihn an. »Warum haben Sie mich ausgesucht? Sie begegnen
so vielen Leuten.«
    »Aber ich hab dich nicht ausgesucht. Du hast mich ausgesucht. Du bist
auf mich zugekommen.«
    Ihre Frage erstaunt ihn. Außerdem beunruhigt ihn das Wort »ausgesucht«,
es klingt wie bei einem Produkt, das man aus dem Regal holt und zur Kasse mitnimmt.
    »Aber Sie haben mir diese provozierende E-Mail
geschickt.«
    »Provozierend? Ich habe dich auf die Tugend der Disziplin hingewiesen.
Obwohl sich das aus meinem Mund jetzt zugegeben etwas ironisch anhört.«
    Sie zuckt mit den Schultern. »Sie sind dran.«
    Er wirft einen Blick auf die Zeitungen auf
seinem Schoß.
    »Hattest du schon mal eine feste Beziehung?«, fragt er.
    »Ich werde wahrheitsgemäß antworten. Das haben Sie übrigens vergessen
zu sagen: ob Sie wahrheitsgemäß antworten oder eine Strafe bekommen wollen, aber
okay. Nein, nicht wirklich. Aber ich hab einen guten Freund, mit dem ich ab und
zu auch ins Bett gehe.«
    »Wie meinst du das?«
    »Wie ich es sage. Wir haben eine Freundschaft mit
Extras.«
    »Bei ›Extras‹ denke ich nicht unbedingt gleich
an Sex.«
    »Das macht nichts. Ich auch nicht immer.«
    Er rückt die Zeitungen zurecht.
    »Und wie lange ist das gegangen?«, fragt er.
    »Wie lange ist was gegangen?«
    »Das mit den Extras.«
    »Es passiert immer noch ab und zu. Manchmal. Wenn [604]  wir uns nichts mehr
zu sagen haben, am Samstagabend. Dann muss man doch irgendwas anfangen?«
    Ist das eine Frage? Muss er jetzt antworten?
    »Ja«, sagt er. »Samstags abends muss man
was unternehmen.«
    »Sie haben doch auch eine Freundin?«
    Er nickt. »Und wie heißt der Junge?«
    »Spielt das eine Rolle? Er kann gut singen. Vor kurzem hat er in einem
Musical mitgespielt, als Don Quijote. Mögen Sie Musicals?«
    »Verschone mich, Gwendolyne! Musicals sind noch schlimmer als Literatur.«
    Wieder schaut sie ihn spöttisch an. Irgendetwas an ihm findet sie lustig. Sie fängt an zu singen: »Denn ich bin Don
Quijote, der Mann von La Mancha.«
    Dann kann er nicht mehr folgen. Als sie zu Ende gesungen hat, fragt sie:
»Nicht schön?«
    »Sehr schön. Aber Musicals sind wirklich das Schlimmste vom Schlimmen,
vor allem auf Niederländisch.«
    Er schlägt die Herald Tribune auf.
    Nachdem er einen Artikel über Goldman Sachs gelesen hat, sagt er: »Mein
Sohn mag Musicals. Er hat Mamma Mia! auf DVD gesehen. Er war begeistert.«
    »Sie haben einen Sohn?«
    Oberstein nickt.
    »Ja, ich hab einen Sohn. Du guckst so nachdenklich. Ist irgendwas?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Nein, nichts. Blondie ist krank. Aber nichts
Ernstes.«
    »Blondie. Du redest von Pferden, als wären
es Menschen.«
    [605]  Er vertieft sich wieder in seine Zeitung.
Eine Kolumne von Paul Krugman. Er macht sich auf die leichten Adrenalinstöße gefasst,
die dessen Artikel stets in ihm auslösen.
    Gwendolynes Schweigen macht ihn unsicher. Es beunruhigt ihn.
    14
    Auch in Genf ist Gwenny noch nie gewesen, doch viel Zeit, sich
die Stadt anzusehen, bleibt nicht.
    Vom Bahnhof zum Hotel nehmen sie ein Taxi.
    Danach gehen sie kurz am Seeufer spazieren. Sie sieht viele Pelzmäntel.
Hier scheint es noch kälter zu sein als in Lyon, auf jeden Fall feuchter.
    Nach zehn Minuten sagt Oberstein: »Gehen wir zurück ins Hotel. Etwas
essen.«
    Sie kehren um.
    »Vielen Dank übrigens«, sagt sie.
    »Wofür?«
    »Dass Sie mein Freund werden wollten.«
    »Wie meinst du das?«
    »Na, auf Facebook.«
    »Ach das. Ja, ich dachte, das ist doch das mindeste, was ich tun kann.«
    [606]  15
    Bevor sie den Speisesaal betreten, nennt er dem Maître d’hôtel
seine Zimmernummer. Der Mann schaut in seinem Buch nach und sagt dann: »Guten Abend,
Monsieur und Madame Oberstein.«
    Sie bekommen einen Tisch neben zwei englischen Geschäftsleuten, Bankern vermutlich, die ihr Gespräch zwei Sekunden
lang unterbrechen, um Gwendolyne und Oberstein zu mustern.
    Nach dem Hauptgericht sagt er: »Ich bin ja kein großer Redner, aber du
sagst noch weniger.«
    »Ich genieße das Essen und die Umgebung.«
    »Dann ist es gut.«
    Sie teilen sich einen Nachtisch, warme tarte au Chocolat. Die Preise hier sind astronomisch, doch das spielt keine Rolle. Er wird sich von
diesen unerwarteten und im Grunde unverantwortlichen Geldausgaben schon wieder erholen.
Wie er auch seine mangelnde Disziplin wiedergutmachen wird, sein pflichtvergessenes Verhalten in Lyon. Er wird zeigen, dass man
ihn nicht umsonst zu den vierzig bedeutendsten Adam-Smith-Experten der Welt

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