Mit Haut und Haaren
Kolik. Ein Martyrium. Ich musste schnell entscheiden. Hab noch versucht,
dich [611] anzurufen, aber am Telefon war nur so ’ne französische Frauenstimme.«
Sie will sich losreißen, aber der Bauer gibt sie nicht frei.
»Du wirst schon wieder ein neues Pferd finden«,
meint er.
19
»Was ist?«, fragt er leise.
Roland steht aus dem Bett auf und geht mit dem Handy ins Bad.
»Nie rufst du mich an«, sagt er. »Warum jetzt? Ich meine: warum um diese
Uhrzeit?«
»Mein Pferd ist tot.«
»Das tut mir leid.«
Eine Pause entsteht.
»Kommen Sie Sonntagabend zum Essen?«
»Pardon?«
»Kommen Sie Sonntagabend zum Essen zu mir?«
»Bei deinen Eltern?«
»Ja, bei meinen Eltern und meinen Brüdern. Ich habe drei Brüder. Ich
werd für Sie kochen.«
Sonntagabend, das ist übermorgen. Er weiß nicht, was er sagen soll. Hat
er darauf überhaupt Lust? Hat er dafür die Zeit? Ist das passend?
»Sie hatten gesagt, Sie würden kommen.«
»Tu ich ja, tu ich ja«, sagt er schnell. »Schön! Tut mir leid, wegen
deinem Pferd.«
[612] »Ich werd Ihnen die Adresse mailen. Kommen Sie mit dem Zug?«
»Ich denk schon.«
»Mein Vater kann Sie vom Bahnhof abholen. Er hat’s mir von sich aus angeboten.
Es ist kein Problem für ihn. Sie nehmen am besten den Zug nach Delft oder den nach Den Haag Hollands Spoor.«
»Ich nehme den Bus vom Bahnhof, vielen Dank, auch an deinen Vater. Bis
Sonntag, Gwendolyne.«
Er legt sich wieder ins Bett.
»Wer war das?«, fragt Violet.
»Ein Student.«
»Und die rufen dich mitten in der Nacht an?«
»Offenbar schon.«
»Komisch.«
»Ja. Sie werden immer selbstbewusster.«
20
Lea putzt sich die Zähne. Neben einer alten Dose Nachtcreme
findet sie eine Spraydose Rogaine. Sie greift danach.
Ihr Mann sitzt im Wohnzimmer am Esstisch. Sie haben eine Beziehungstherapie
angefangen, auf Initiative von Jason, der fand es eine gute Idee. Eine Scheidung
sei teuer und auch nicht so gut für seine politische Karriere.
Lea geht mit der Spraydose ins Wohnzimmer.
»Wegen mir hast du dir so was nie angeschafft«,
sagt sie.
[613] Er starrt auf die Dose, als könne er nicht erkennen, was Lea in der
Hand hält.
»Für mich hast du nie was gegen deine kahlen Stellen unternommen. Für
mich waren die offenbar gut genug.«
Sie geht auf ihn zu, stellt das Haarwuchsmittel vor ihn hin.
»Ich dachte, sie wären dir nicht aufgefallen«, sagt er leise, während
er die Spraydose vom Tisch nimmt.
»Dachtest du, ich bin blind?«
Er dreht die Dose in der Hand, wie ein Spielzeug, einen Talisman.
»Du warst so mit deinem Höß beschäftigt«,
sagt er leise. »Und mit den Kindern. Ich dachte, die kahlen Stellen wären dir egal.«
Sie schaut ihn an. Seine beste Zeit ist vorüber. Verbraucht ist er, eindeutig.
Sie sieht das klarer denn je. Als hätte jemand endlich das Licht angeknipst. Sie
kann kaum noch glauben, dass sie all die Jahre mit ihm verheiratet war, dass dies
der Vater ihrer Kinder ist.
Wird sie noch mal einen anderen Mann finden,
oder soll sie den Rest ihres Lebens die sexuelle Beziehung mit dem pakistanischen
Taxifahrer fortsetzen, dem Mann, der hart arbeitet, um seine Familie in Lahore zu
ernähren? Er riecht gut, das schon, dieser Mann aus Lahore. Exotisch und doch vertraut.
»Was machst du mit diesem Mann?«
»Welchem Mann?«
»Dem UPS -Boten. Ich bin nicht blind. Was
machst du mit ihm? Ist er dein Sexsklave?«
Er schaut sie kurz an, dann studiert er eingehend das [614] Etikett der
Spraydose, als stehe dort etwas, was ihm bisher entgangen ist.
»Wir sind Seelenverwandte«, sagt er. »Mehr nicht. Seelenverwandte.«
Sie setzt sich neben den Mann, von dem sie noch nicht geschieden ist.
»Sag mir bitte, dass ich eine attraktive Frau bin«, fleht sie. »Sag, dass alles gut wird.«
Er nimmt den Deckel von der Spraydose, sprüht sich etwas Rogaine in die
Hand und verteilt es langsam auf seinem Kopf.
»Jason! Sag mir bitte, dass ich eine attraktive Frau bin!«, wiederholt
sie.
Schweigend sieht er sie an, während er sich mit beiden Händen den Schaum
in die Kopfhaut massiert.
Als er damit fertig ist, riecht er an seinen Fingern.
»Alles wird gut«, sagt er.
21
Gwenny holt eine Packung Magerjoghurt aus dem Kühlschrank und
füllt etwas davon in ein Schälchen.
»Wer ist der Mann, der Sonntagabend zum Essen kommt?«, fragt ihre Mutter.
»Ein Dozent.«
»Hast du ein Verhältnis mit ihm?«
»Nein«, sagt Gwenny, während sie stehend den Joghurt [615] aufisst. »Er ist einfach ein
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