Mit Haut und Haaren
richtigen Rausch im Leben erinnern.
»Ist es noch schön für dich?«
»Natürlich«, antwortet sie.
Gwendolyne fragt eine Frau mit zwei Einkaufstüten nach dem Weg.
Sie gehen weiter.
»Hätten Sie Lust, einmal zum Essen zu mir zu kommen?«, fragt sie.
»Du wohnst doch bei deinen Eltern?«
»Ja und?«
»Was werden die sagen, wenn ich so einfach hereinschneie? Wäre ihnen
das recht?«
Er schaut sie an.
»Sie wollten nicht, dass ich Literaturwissenschaft
studiere, aber sonst sind sie sehr tolerant.«
»Was macht dein Vater eigentlich?«
[600] »Er hat einen Großhandel für Gartenmöbel.«
»Wenn es deinen Eltern nichts ausmacht, will ich gern einmal kommen.
Warum nicht?«
»Von hier aus weiß ich’s wieder«, sagt sie. »Wenn wir nach links gehen,
kommen wir direkt zum Hotel.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, da geht’s lang
zum Hotel.«
Sie nimmt seine Hand. »Haben Sie ein bisschen Vertrauen«, meint sie.
»Keine Angst.«
13
Innerhalb von drei Minuten hat Gwendolyne ihre Sachen gepackt,
Oberstein braucht etwas länger.
Seine Bücher und den Ausdruck des Vortrags, den er jetzt eigentlich halten
sollte, legt er zuunterst in den Koffer; darüber Gwendolynes
Peitsche und dann seine Kleidung.
Er schaut sich noch einmal um, ob er auch nichts vergessen hat.
Sein Kopf ist schwer und leicht zugleich. Seine Stimmung schießt hin
und her zwischen grenzenlosem Triumph und tiefster Mutlosigkeit.
In der Bar des Hotels sieht er Professor Skiba sitzen, zum Glück mit
dem Rücken zu ihnen. Offenbar schwänzt auch er ein paar
Vorträge, aber bestimmt nicht den eigenen.
Leise sagt Oberstein zum Portier: »Ich möchte
gern auschecken.«
[601] »Sie hatten drei Anrufe«, sagt der. »Eine gewisse Catherine –«
»Ich weiß«, unterbricht Oberstein ihn, »aber es ist ein Notfall. Ich
muss auschecken.«
»Das Zimmer ist bis morgen für Sie reserviert,
sind Sie sicher –«
»Ich muss weg«, unterbricht Oberstein den Jungen zum zweiten Mal. »Ein
Notfall. Eine Sache auf Leben und Tod.«
»Hatten Sie etwas aus der Minibar?«
»Nein«, antwortet Oberstein.
»Dann ist alles geregelt. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
»Danke, nicht nötig.«
Sie gehen zum Taxistand. Oberstein hat einen Rollkoffer, doch auf dem Pflaster nutzt
der ihm wenig.
»Zum Bahnhof, bitte«, befiehlt Oberstein dem
Fahrer.
Er schaltet sein Handy ein und schickt der Dame von der Organisation
eine SMS . »Entschuldigung für meine Abwesenheit, es
gab einen Notfall, melde mich so schnell wie möglich per E-Mail bei Ihnen. R. Oberstein.«
Dann schaltet er das Handy wieder aus.
Der nächste TGV geht nach Genf. Roland
kauft zweimal die Hinfahrt zweiter Klasse und dann eine Le Monde und eine Herald Tribune.
Der Wein und der Pernod sitzen ihm immer noch in den Knochen. Beim Gehen
ist ihm ein wenig schwindlig.
»Möchtest du etwas trinken, ein Wasser vielleicht?«, fragt er Gwendolyne,
als sie im Zug sind.
Gwendolyne nickt.
Er geht in den Speisewagen und kommt mit zwei Flaschen Wasser zurück.
[602] »Irgendwann muss ich aber auch wieder an die Uni«, sagt Gwendolyne.
»Ich weiß nicht, wo Sie noch alles hinwollen.«
»Ich auch. Fast hätte ich es vergessen. Auch ich muss an die Uni zurück.«
Es ist schon dunkel. Die Zeitungen liegen auf seinem Schoß. Die Universität,
ja, dahin muss er wohl wieder, zurück zu P.W.F.M. Verkerk. Wieder muss er an sein
Gehalt denken. Der Wert einer Sache wird in Geld ausgedrückt. Der Universität Leiden
ist er nichts wert. Nicht genug jedenfalls. So viel ist sicher.
Vielleicht hätte er sie nicht mitnehmen sollen, dann hätte er seinen
Vortrag gehalten.
»Lass uns was spielen«, schlägt Oberstein vor. »Wir stellen einander
abwechselnd Fragen. Du kannst wählen: Entweder du antwortest wahrheitsgemäß, oder
du bekommst Strafe.« Er nimmt einen Schluck Wasser. »Oder möchtest du lieber über
Ökonomie reden?«
Sie denkt kurz nach.
»Nein, dann schon lieber das Spiel.«
»Du darfst anfangen«, sagt Oberstein.
Bis nach Genf sind es anderthalb Stunden. In gut einer Stunde werden
sie dort sein. Er wird ein Hotel und zwei Flugtickets für morgen Nachmittag buchen
und den Organisatoren der Tagung eine E-Mail schicken. Er wird sich irgendwas ausdenken.
Krankheit. Was mit seiner Mutter. Kranker Sohn. Kranke Mutter ist besser.
»Hast du schon eine Frage gestellt?«
»Nein, noch nicht«, antwortet sie. Gwendolyne wirft einen Blick auf ihre Tasche, die neben ihr auf dem Sitz
liegt, [603] dann
Weitere Kostenlose Bücher