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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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absichtlich
krank werden und sterben, es vielmehr auch für sie kein Zuckerschlecken ist.
    Wenn sein Sohn ihn besucht, gilt der Ausnahmezustand: Erst kommt der
Junge, dann kommt die Forschung. Doch auch dann sagt er hin und wieder: »Jetzt muss
Papa arbeiten. Weißt du, was eine Spekulationsblase ist? Das ist, wenn zum Beispiel
alle Leute denken, dass Tulpenzwiebeln nächstes Jahr zwanzigmal so teuer sind wie
in diesem, und darum wie verrückt Tulpenzwiebeln kaufen, weil sie alle schnell reich
werden wollen, und die Tulpenzwiebeln darum auch wirklich immer teurer werden, bis
irgendetwas geschieht, oft etwas Kleines, wodurch die
Leute aufhören zu kaufen. Das ist, was Papa untersucht, und darum musst du jetzt
einen Moment fernsehen.«
    [148]  Dann setzt er seinen Sohn vor den Bildschirm. Er schaut ihn kurz an
und fügt dann hinzu, als wolle er zeigen, dass ihm sein kleines Versagen bewusst
und er in der Lage ist, sich auch durch die Augen des Kindes zu sehen: »Irgendjemand
muss doch die Brötchen verdienen!«
    Er lacht und ahnt gleichzeitig das Urteil, das der Junge einmal über
ihn fällen wird: Er weiß, dass alle Kinder ihre Eltern zu guter Letzt richten.
    2
    Nach der Heirat hatte Lea den Namen ihres Mannes angenommen.
Ranzenhofer, worüber ihre Mutter zutiefst verbittert war. »Schämst du dich für deinen
eigenen Namen?«, hatte die Mutter ausgerufen. »Ist deine Herkunft dir eine Last?«
    »Ranzenhofer ist auch kein völlig unbelasteter Name«, hatte Lea geantwortet.
»Wenn ich mich schämen will, kann ich mich genauso gut für Ranzenhofer schämen.«
    Ihre Mutter machte es einem nicht einfach. Ihr einziges Kind konnte ihre
Erwartungen kaum je erfüllen.
    Doch vielleicht war es tatsächlich eine heimliche oder nicht einmal gar
zu heimliche Rache, dass Lea ihren Mädchennamen aufgab, wie andere ihren Glauben
ablegen und vom einen Tag auf den anderen keinen Fuß mehr in ein Gotteshaus setzen.
    Sie selbst fand es vor allem praktisch und wollte, jetzt, [149]  wo sie es
einmal beschlossen hatte, auch dabei bleiben. Sie publizierte unter diesem Namen,
war auf Facebook darunter zu finden, und auch ihr Buch
über Höß würde sie als »Lea Ranzenhofer« veröffentlichen.
    So hatte sie es beschlossen, und so würde es geschehen.
    Die Kinder liegen im Bett. Lea sitzt am Esstisch mit ihrem Mann,
der an einer Ansprache arbeitet. Jason hat mindestens vier Notebooks und zwei PC s, doch seine Reden schreibt er immer noch am liebsten
mit Kuli.
    Eine halbvolle Flasche Rotwein steht auf dem Tisch und ein Teller mit
zwei Sorten Käse: Ziegenkäse und eine Art Gorgonzola, dessen Namen sie vergessen
hat.
    Nach ihrer Ankunft in der Wohnung war sie
zu müde zum Kochen gewesen, die Konferenz und der Flug hatten sie zu sehr erschöpft. Sie hatte Sushi bestellt, die Kinder, denen die Geschenke
offenbar gefallen hatten, zu Bett gebracht, sie hatte
ihnen vorgelesen – und auf einmal Hunger bekommen.
    Ihr Appetit, der sie wochenlang im Stich gelassen hatte, meldete sich
urplötzlich erstaunlich heftig zurück. Im Kühlschrank
hatte sie die zwei Käse gefunden, die sie vor ihrer Abreise nach Deutschland gekauft hatte und die noch gut aussahen. Sie hatte ein Brot aufgeschnitten
und mit dem Käse zusammen auf den Tisch gestellt.
    Ihr Mann hatte kaum aufgesehen. Er muss morgen eine Kindertagesstätte
eröffnen.
    Sie hatte gedacht: Ob er es wohl merkt? Ob sie noch ein wenig nach Sven
Durano roch, trotz des Flugs und obwohl sie nach dem Sex zweimal geduscht hatte?
    [150]  Doch ihr Mann redete nur über die Kinder, über die Babysitterin und
seine Arbeit. Er roch nichts.
    Sie hatten sich auf der Universität kennengelernt. Er war ein paar Jahre
älter als sie, und sie hatten eine lockere Beziehung gehabt, doch nicht für lange.
Ihr künftiger Mann war in eine andere Stadt gegangen,
dem richtigen Leben entgegen, und sie hatte sich in einen Clown verliebt, oder besser
gesagt, in einen Mitstudenten, der Clown werden wollte und diesen Berufswunsch sehr
ernst nahm. Er wollte nach Europa gehen und dort eine Clownschule besuchen. Er hatte
sie sogar aufgefordert, mit ihm zu kommen, und eine Weile hatte sie auch wirklich
mit dem Gedanken gespielt, nur um bei ihm zu bleiben. Ein paar Tage lang hatte sie
überlegt und sich vorgestellt, wie es wohl wäre, irgendwo weit weg in einem Land
mit ihm zu leben, dessen Sprache sie noch nicht sprach, doch die würde sie lernen,
wo ihr das Essen nicht schmeckte, doch auch daran würde sie sich gewöhnen, und

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