Mit Haut und Haaren
wie
sie sich als Ehefrau eines Clowns fühlen würde. Es waren schöne Tage: Weil sie die
Entscheidung in einem fort hinauszögerte, standen ihr alle Möglichkeiten offen. Doch dann hatte sie an die Reaktion ihrer Mutter und
ihres Vaters gedacht – ihre Eltern waren damals schon geschieden – und die ihrer
Großeltern, soweit die noch reagieren konnten, und eines Nachmittags hatte sie zu
dem künftigen Clown gesagt: »Ich komme doch nicht mit.«
Er war enttäuscht, hatte geweint, doch nicht versucht, sie umzustimmen. Er hatte
nicht gefleht, nicht gebettelt, sie nicht aufgelöst mitten
in der Nacht angerufen, war vielmehr in aller Stille zu seiner Clownschule im alten
Europa abgereist. Die Leichtigkeit, mit der er sie aufgab, hatte sie enttäuscht, [151] und so hatte die Trennung ihr unerwartet doch mehr weh getan als gedacht. Nicht
der Abschied selbst, eher die Ergebung, mit der ihr Geliebter sich dareinschickte.
Als sei eine Clownschule in Ungarn wichtiger als sie. Wie man einen Badeort verlässt,
wo man eine schöne Zeit verbracht hat, mit einer gewissen Melancholie, doch auch
der ruhigen Gewissheit, dass es noch mehr schöne Badeorte auf der Welt gibt, so
war er nach Ungarn geflogen. Sie hatte heimlich gehofft, er würde um sie trauern, doch schließlich war sie es,
die trauerte.
Ein paar Jahre später war Lea Jason Ranzenhofer wiederbegegnet, und sie
hatten ihre Beziehung wiederaufgenommen, als sei nie etwas gewesen. Kurz darauf
beschlossen sie zu heiraten. Ihr Mann hatte darauf gedrungen, und das hatte ihr
gefallen; ein angenehmes Gefühl war es gewesen.
Hier ging es nicht um Nachtrauern, man wollte sie. Und alles, was sie
zu tun brauchte, war lächeln und zustimmen.
Er schaut von seinem Papier auf. »Du wirkst so geistesabwesend«, sagt
er. Doch er hat selbst dabei einen geistesabwesenden Blick.
Ob er es jetzt riecht?
Ihr Mann hatte sich auf internationale Beziehungen spezialisiert, um
in der Politik Karriere zu machen. Das war ihm gelungen, wenn auch auf anderer Ebene
als ursprünglich erhofft. Er war Bezirksbürgermeister
von Brooklyn geworden. Oft sagte er: »Warum soll ich
vom Abgeordnetenhaus oder vom Senat in Washington träumen? Ich habe den schönsten
Beruf der Welt. Ich bin die Nummer eins in Brooklyn. Und außerdem noch sehr jung.«
Seltsamerweise verkündete er das nicht nur öffentlich, [152] sondern auch regelmäßig daheim, und als Lea ihn einmal darauf ansprach, hatte
er ihr erklärt: »Schau, auch du bist Stimmvolk. Wähler gibt es nicht nur auf der
Straße, in ihren Wohnungen, in Krankenhäusern, auf dem Postamt oder der Polizeistation,
sie befinden sich auch hier, in unserem Zuhause.«
Er hatte gelacht wie über einen guten Witz, doch insgeheim wusste sie:
Er meinte es ernst.
»Geistesabwesend, wieso?«, fragt Lea und schneidet sich noch ein Stück
Ziegenkäse ab.
Sie hört seinen Stift über das Papier gleiten,
hört ihn atmen. Als sie ihn kennenlernte, war er schlank und hatte üppiges Haupthaar.
Jetzt bekommt er einen Bauch, und sein Haar dünnt sich aus. Er würde gern regelmäßig
ins Sportstudio gehen, doch seine Arbeit ist äußerst fordernd. Die Wähler sind anspruchsvoll,
sagt er immer, wie kleine Kinder. »Ich muss an meine Wähler denken« ist eins seiner
geflügelten Worte, und soweit Lea es sehen kann, ist
das keine Phrase. Ihr Mann denkt ständig an seine Wähler. Und an seine Kinder. Fürs
Sportstudio bleibt da wenig Zeit.
»Möchtest du noch etwas Käse?«, fragt sie. Er schüttelt den Kopf, ohne
aufzusehen. Wenn er einmal gut drin ist, schreibt er an einem einzigen Abend eine
Rede von zwanzig Minuten.
Doch es gibt auch Phasen, wo er keine Ideen hat, und dann schreibt jemand
anders die Reden für ihn. Ein junger Mann, noch Student, der den Bezirksbürgermeister
maßlos bewundert und in allerlei Angelegenheiten um Rat fragt, selbst solchen des
Herzens.
[153] Ein paar Tage vor ihrer Abreise zur Holocaustkonferenz hatte Lea
sich zu einem Frontalangriff entschlossen. Mit Vorsicht
und Takt hatte sie nichts erreicht, die behutsame Herangehensweise keine Früchte
getragen, wahrscheinlich, weil er völlig von seiner Arbeit absorbiert war. Darum
entschloss sie sich zu einer neuen Taktik. Hier an diesem Tisch hatte sie ihn gefragt:
»Wissen deine Wähler eigentlich, dass du Erektionsprobleme hast?«
Er hatte sie angesehen, nicht wütend, nicht niedergeschlagen, nur erstaunt.
»Was haben meine Wähler damit zu tun?«, hatte er gefragt. »Was gehen die Wähler
meine
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